Nachhaltigkeitsmedaille auch für Oldies?
Zertifizierung auch für
Bestandsimmobilien

Nach Erfolgen des US-Amerikanischen „LEED“ Systems zur Bewertung der Nachhaltigkeit hält der „Green-Building-Gedanke“ jetzt auch in der deutschen Immobilienwirtschaft Einzug – bislang allerdings nur im Neubau. In einem gemeinsamen Pilotprojekt der Unter­-­nehmen CalCon und STRABAG Property and Facility Services wurde erstmals der Versuch unternommen, das „Deutsche Gütesiegel für Nachhaltiges Bauen“ für ein durchschnittliches Bestandsgebäude umzusetzen.

Zwar erscheint die Verwendung des Begriffes „Nachhaltigkeit“ manchmal inflationär, dennoch lenkt er die Aufmerksamkeit in Richtung „Gleichgewicht“: Nach der Brundtland-Kommission lässt sich Nachhaltigkeit definieren als „Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können“. Die vier Säulen der Nachhaltigkeit sind gleichermaßen zu berücksichtigen: Ökologie, Ökonomie und soziale und funktionale Komponenten.

Diese ganzheitliche Betrachtung und Bewertung haben sich die Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) und das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) mit der Entwicklung eines deutschen Zertifizierungssystems auf die Fahnen geschrieben. Im Januar 2009 wurden auf der BAU 2009 von Bundesminister Tiefensee die ersten 16 Auszeichnungen des „Deutschen Gütesiegels für Nachhaltiges Bauen“ an Neubauprojekte verliehen.

Allerdings liegt der größte Hebel für mög­liche Verbesserungen der nachhaltigen Entwicklung im Bestand, der die Masse an Immobilien in Deutschland ausmacht. In einem Pilotprojekt wurde daher nun erstmals versucht, das deutsche Zertifizierungssystem auch für ältere Objekte verwendbar zu machen. Durchgeführt wurde es von zwei der Initiato­ren der DGNB (CalCon Deutschland und Ingenieurbüro Trinius) und einem Gründungsmitglied, der STRABAG Property and Facility Services (früher DeTe Immobilien). STRABAG PFS stellte für das Pilotobjekt Informationen und seine Fachabteilungen zur Verfügung. Ziel ist, die Grundsätze des nachhaltigen Bauens auch bei Bestandmaßnahmen zu berücksichtigen. Gerade Kunden mit großen Bestandsportfolios zeigen sich solchen Ansätzen gegenüber zunehmend offen, verlangen aber, dass „sich das Ganze auch rechnet“ - der Mehrwert des „Green Building“ muss nachvollziehbar, d.h. dokumentierbar sein.

Hier kommt das neue Gütesiegel der DGNB ins Spiel. Ist es möglich und sinnvoll, die bisherigen Bewertungskriterien und die Methodik des DGNB-Labels auf Bestandsbauten anzuwenden? Welcher Aufwand ist dazu erforderlich? Wie belastbar sind die Ergebnisse? Für das Pilotprojekt fiel die Wahl auf ein Verwaltungsgebäude der Deutschen Telekom aus dem Jahre 1971 in Essen: ein für die 70er Jahre typisches Gebäude mit Waschbetonfassade, Flachdach und entsprechendem Sanierungsstand. In seiner Alltäglichkeit kann der Bau als Musterbeispiel für den Immobilienbestand der Zeit gelten. 

Die Analyse des Gebäudes wurde von der CalCon Deutschland AG und dem Ingenieurbüro Trinius durchgeführt. CalCon hat als Beratungs- und Systemhaus mit der Software epiqr®, die zusammen mit der Fraunhofer-Gesellschaft entwickelt wurde, mittlerweile über 100 Mio. m² BGF hinsichtlich baulichem Zustand, Instandhaltungsbedarf und energetischer Performance erfasst. Dr. Wolfram Trinius leitet die internationale Arbeitsgruppe, die die Norm ISO 15392 für nachhaltiges Bauen entwickelt hat. Die Untersuchung des Gebäudes wurde in zwei Teile gegliedert. Zunächst wurde der Instandhaltungs-, aber auch der Modernisierungsbedarf des Gebäudes mit dem europäischen Verfahren epiqr® (www.epiqr.de) bewertet. Zudem wurden die bereits feststehenden Kriterien­steckbriefe des DGNB-Zertifizierungssystems zur Bewertung der Nachhaltigkeit auf das Gebäude angewendet. Danach wurden mögliche Handlungsalternativen durchexerziert.

Folgende Fragestellungen zur Übertragung der Bewertungskriterien vom Neubau auf den Bestand wurden beantwortet:
Ist der Indikator aussagekräftig für die Bewertung der Bestandsimmobilie? Ist er direkt übertragbar oder sind Anpassungen erforderlich? In welchem Umfang? Welche Messmethodik ist dafür anwendbar? Welcher finanzielle Aufwand ist für die Bewertung des Indikators zu erwarten?

Verschiedene Planungsvarianten von der kon­ventionellen Instandsetzung und Modernisierung bis hin zur nachhaltigen Modernisierung wurden in epiqr® abgebildet und kalku-

liert.  Dabei konnten Erkenntnisse zur weiteren Strategie in der Bestandsbewirtschaftung für dieses und vergleichbare Objekte gewonnen werden. Das wichtigste Ergebnis ist die überarbeitete Vorgehensweise. Ein Modell zur Bewertung von Bestandsimmobilien, mit Fokus auf die Praxistauglichkeit, wird vorgeschlagen. Es handelt es sich um eine dreistufige Herangehensweise: Im ersten Schritt wird, analog einer konventionellen „due diligence“, ohne abrasive Maßnahmen eine erste grobe Analyse der Nachhaltigkeits-Indikatoren durchgeführt. Dabei wird deutlich, bei welchen Indikatoren ein hoher Zielerreichungsgrad vorliegt und wo Verbesserungspotential besteht. Ebenso kann eine grobe Abschätzung der Schadstoffbelastung aufgrund verwendeter Materialien ge­troffen werden. Der erste Schritt soll geringe Kosten verursachen, die ersten Ver-besserungs­­szenarien liefern und damit eine niedrige Einstiegsbarriere für die Immobilienwirtschaft bieten, damit nicht nur einzelne Liegenschaften, sondern auch größere Immobilienbestände analysiert werden können. Für das untersuchte Objekt konnte bereits im Rahmen der Grobdiagnose ein nachhaltiges Modernisierungskonzept entwickelt werden.

Im zweiten Schritt erfolgt eine weitergehende Untersuchung durch gezielte Probennahmen und Messungen am Objekt, z. B. hinsichtlich möglicher Schadstoffbelastung. Dabei geht es um eine Überprüfung der „KO“-Kriterien, das sind Nachhaltigkeitskriterien, deren Nichterfüllung eine Zertifizierung automatisch ausschließt. Es finden ausführliche Analysen möglicher Verbesserungen und Simu­lations­rechnungen für eventuelle Maßnahmen statt. Der zweite Schritt verursacht geringe Zusatzkosten, wenn im Zusammenhang mit einer anstehenden Modernisierungsmaßnah­me für das Gebäude ohnehin detaillierte Informationen zusammengetragen werden müssen.

Im dritten Schritt wird die eigentliche Zertifizierung durchgeführt, bei der alle Kriteriensteckbriefe und die darin enthaltenen Indikatoren mit ihren Vorschriften zu erfüllen sind. Das Ergebnis ist das „Deutsche Gütesiegel Nachhaltiges Bauen“. Um eine Durchgängigkeit des Systems vom Neubau bis zum Bestandsobjekt zu gewährleisten, ist eine detaillierte Berechnung analog zu den Vorgaben für den Neubau durchzuführen. Der mit der Berechnung verbundene Aufwand lässt vermuten, dass dieser Schritt für wenige Bestandsgebäude in Frage kommen wird.

Beim untersuchten Objekt ergab die schnelle und kostengünstige Grobdiagnose (Schritt 1) vielfältige Verbesserungsvorschläge. Bei der Analyse der DGNB-Steckbriefe wurde als Verbesserungsvorschlag z. B. die energetische Ertüchtigung der Gebäudehülle identifiziert, insgesamt alles Maßnahmen, die sich abgesehen von den Anforderungen der Ökobilanzierung nur geringfügig  von einer konventionellen Energieberatung unterscheiden.

Das Projektteam ging daher einen Schritt weiter und integrierte auch nicht direkt messbare, so genannte qualitative Kriterien, die in der ingenieurtechnischen Welt ungewohnt, am Markt und in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften aber gang und gäbe sind. Sie lassen sich in Schlagworte wie „gestalteri- sche Aspekte“, „Raumgefühl“, „Farbkonzept“, „Image des Gebäudes“ oder auch „Aufenthaltsqualität im Außenraum“ fassen. So wurde z.B. der Büroflur aufgewertet.

In ökonomischer Hinsicht wurde das Nutzungskonzept des Gebäudes unter Berücksichtigung des individuellen Standorts untersucht und festgestellt, dass eine realisierbare Änderung der im Gebäude vorhandenen Sicherheitsbereiche die Vermarktbarkeit der Liegenschaft deutlich steigern würde, da z. B. die Kantine aufgrund von Lage und Ausstattung als Restaurationsbetrieb umgenutzt und verpachtet werden könnte.

Das Positive an der mehrstufigen Vorgehensweise ist, dass der Eigentümer schnell und kostengünstig erste Informationen über die Nachhaltigkeit seiner Liegenschaft erhält und damit die Entscheidung über Maßnahmen am Gebäude nicht auf kurzfristige ökonomische Kriterien gründen muss. Dem häufig geäußer­ten Einwand, eine Wirtschaftlichkeitsbetrachtung sei hier ausreichend, kann entgegnet werden, dass die meisten Bestandshalter in eine Entscheidung heute auch soziokulturelle und ökologische Kriterien mit einfließen lassen. Schadstoffbelastungen, Energiekosten, Raumaufteilungen und Nutzerzufriedenheit sind wesentliche Indikatoren im Immobilienmanagement. Sie werden durch den Nachhal­tigkeitsgedanken nicht neu erfunden, sondern nur sinnvoll und übersichtlich strukturiert.

Fazit

Die mehrstufige Vorgehensweise ermöglicht auch für Bestandsimmobilien eine schnelle und kostengünstige Nachhaltigkeitsanalyse. Auch bei größeren Immobilienbeständen steht einer Bewertung der Nachhaltigkeit nichts im Wege. Ein ideales System muss durchgängig zwischen Bestand und Neubau anwendbar sein. Durch das stufenweise Vorgehen kann ein Bestandsgebäude im letzten (dritten) Schritt konform zu den Rechenvorschriften für Neubauten bewertet werden. Da dies aufgrund des damit verbundenen Aufwands ein Sonderfall bleiben wird, kann ein Nachhaltigkeitszertifikat für Bestandsgebäude nicht zur Pflicht werden.

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