Josefsviertel, Ingolstadt

Mustergültig
Josefsviertel, Ingolstadt

Hinter plakativen Rot, Grün und Blau gehaltenen Schiebeläden verbergen sich über 100 ziemlich mustergültige altersgerechte Wohnungen. Beyer + Dier Architekten aus Ingolstadt planten das Josefsviertel – in drei Bauabschnitten –, eine rollstuhlgerechte und barrierefreie Wohnanlage. Das Besondere: Die Gebäude bieten Laubengänge, die sich die Bewohner aneignen können – und Gemeinschaftsräume, die dem gesamten Viertel zur Verfügung stehen. Zudem befindet sich die AWO gegenüber, die die Gemeinschaftsräume und die Bewohner betreut.

Die „Boomtown“ Ingolstadt ist in den letzten dreißig Jahren um 40 000 Einwohner gewachsen – auf heute gut 130 000. Die Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft GWG, schon heute Eigentümerin jeder achten Wohneinheit in der Stadt, investiert seit Jahren stark in den Wohnungsneubau: 700 Wohnungen in den nächsten fünf Jahren sind das Ziel. Dabei spielt auch die Nachverdichtung im Bestand eine wichtige Rolle.

Das Josefsviertel ist so ein Bestandsviertel mit schlichten Wohnzeilen der 1950er-Jahre. Früher lag es fast am Stadtrand, doch die Siedlungsentwicklung hat es inzwischen nah an die Mitte gerückt: Der Regional- und Güterbahnhof liegt gleich vor der Haustür und zur Innenstadt ist es nur ein Spaziergang.

Nicht allein die Bausubstanz, auch die Bewohnerschaft alterte hier zuletzt sichtlich – Anlass für die GWG, einen altersgerechten Umbau des Viertels zu prüfen. Doch die typisierten Zeilen der Nachkriegszeit erwiesen sich als wenig geeignet für eine Anpassung an die Bedürfnisse der Senioren. So hätten in die fünfstöckigen Spännertypen eingefügte Aufzüge jeweils nur wenige Wohnungen rollstuhlgerecht erschlossen – der Aufwand schien zu groß. Hinzu kam, dass die offene Bau­struktur wenig Schutz bot gegen den Lärm der Bahntrasse und der Nürnberger Straße, die beide die Westseite des Viertels passieren.

So entschied man sich 2006 für Abriss und Neuplanung der westlichen Randbebauung. Drei mehr oder weniger winkelförmige Baukörper schließen nun an die erhaltenen Zeilen an und schirmen die Höfe wirkungsvoll ab. Zwar wurde unlängst auch der dritte der sehr ähnlich konzipierten Bauabschnitte fertig gestellt, doch wird hier der erste, rollstuhlgerechte Bauabschnitt stellvertretend für die Anlage gezeigt.

Halböffentliche „Gehwege“warten auf
Aneignung

Erschlossen wird die gesamte Neubebauung über miteinander verbundene Laubengänge, die auf der Hofseite offen entlangführen. Zu diesen halböffentlichen „Gehwegen“ gelangt man von der Straße jeweils über ein vollverglastes Foyer in der Ecke des winkelförmigen Baukörpers, dort, wo kein Wohngrundriss hingepasst hätte. Nebengebäude für den Müll rahmen an der Straße einen kleinen Vorplatz; vis-à-vis liegt gleich die Sozialsta­tion der AWO, die auch Bewohner und Gemeinschaftsräume in den Neubauten betreut.

Im Foyer ist auf knallgelbem Boden Platz zum Warten und Sich-Treffen, denn hier münden die horizontalen und vertikalen Verkehrswege – jeder muss hier durch. Bislang ist es indes, auch mangels Möbeln, ein reiner Transit­-
raum. Vermutlich müssen die sozialen Netzwerke im Haus noch wachsen.

Auf manchem Laubengang geht es da vertrauter zu: Jede Wohnung verfügt hier über einen kleinen Vorplatz, der durch den Rücksprung des Badezimmers gegenüber der Küche entsteht. Zwischen beiden Räumen öffnet sich die schwere Wohnungstür. Erst in den folgenden Bauabschnitten lässt sich der Eingang durch ein Eckfenster in der Küche einsehen. In diesem, allein rollstuhlgerechten Bauabschnitt liegt das Küchenfenster mittig, um auch im Sitzen erreichbar zu sein.

Das „Kernhaus“, an das Laubengang und Balkon als thermisch abgetrennte Betonfertigteile angehängt wurden, ist ein in Schottenbauweise errichteter Ortbetonbau. Zum Laubengang bietet die raue Schalung aus Faserzementplatten in der roten Leitfarbe einen angenehm warmen, haptischen Kontrast zu Beton, Stahl und Glas der Erschließungswege, die noch wie erwähnt auf Aneignung warten.

Rollstuhlgerechte Wohnungen

Im Kernhaus bietet die Standardwohnung zwei gleichwertige, gut geschnittene Zimmer. Lediglich die Einheiten am Südende verfügen über drei Zimmer. Platzsparende, raumhohe Schiebetüren, weiße Wände und Eichenparkett erwecken den Eindruck von Großzügigkeit – man kann, muss aber nicht von Ost nach West durchwohnen. Elegant barrierefrei gelöst sind auch die Übergänge aus dem Kernhaus: Am Eingang der Wohnungstür wurde die Fuge zwischen den Bauteilen durch eine bodengleiche Eichenholz-Schwelle geschlossen. Zum Balkon hin ist ein Übergang mit den zulässigen 2 cm Anschlagschwelle nach DIN 18024-2 für Balkontüren entstanden.

Die Balkonseite der Räume ist raumhoch verglast, um Licht in den relativ tiefen Grundriss zu bringen. Doch nimmt der seinerseits mit 1,50 m recht tiefe – und in den Folgeabschnitten noch tiefere – Balkon leider viel Licht, zumal seine Wände in der zweiten Grundfarbe des Komplexes, Anthrazit, gehalten sind. Beim Besuch an einem trüben Wintertag brannte denn auch in den meisten Wohnungen Licht.

Markant prägen die äußere Erscheinung schließlich die geschosshohen Schiebeläden aus Aluminium. Sie hegen die über die gesamte Wohnungsbreite gehenden Balkone ein, schützen vor ungewolltem Einblick, nehmen aber nochmals Licht, zumal wenn sie – wie in den südlichen Kopfwohnungen – nicht ganz weggeschoben werden können.

Die Mechanik der großen Paneele ist dabei leichtgängig, lässt sich aber nicht arretieren, was das Sicherheitsbedürfnis insbesondere der Bewohner im Erdgeschoss tangiert. Während hier in den Folgeabschnitten sogar Ausgänge zu Mietergärten liegen, scheint der erste Bauabschnitt als „purer“ Quader über einer Schattenfuge zu schweben.

Die mehrschichtige Fassade wirkt sich sehr positiv auf den Schallschutz aus. Was die Architekten weiterhin dazu bewog eine kontrollierte Lüftung – über Einzelraumlüftungsanlagen – zu planen.

Kein Grund zum Umzug

Es ist immer wieder aufschlussreich, wie diese an sich strenge System-Bauweise durch Zutaten der Bewohnerschaft an Leben gewinnt. Was mancher Passant wohl zunächst eher für ein Studentenwohnheim halten mag, machen silberhaarige Sonnenanbeter auf Balkonen, Rollatoren auf den Gängen und sicher auch ein eher „altmodischer“ Einrichtungsstil zu einem spannungsvollen, aber beliebten Ensemble. Die robuste, farblich vielleicht etwas zu „laute“ Struktur verträgt viel Aneignung. Möglicherweise brauchen alte Menschen etwas mehr Zeit, die ungewohnten Spielräume zu nutzen, welche die Architektur ihnen eröffnet. Nach ihrer Meinung befragt, äußerten sich die Mieter beim Besuch aber – mit den genannten Ausnahmen Licht und Sicherheit – durchweg positiv über die Wohnqualität. Viele kommen aus Substandard-Altbauwohnungen und schätzen den gebotenen Komfort und den Service – wenn nötig werden sie hier rund um die Uhr versorgt. Wer hier lebt, wird wohl nie mehr umziehen müssen.

Kommerziell? – Nicht auf Kosten sozialer Nutzung!

Auch die erhaltenen Bestandsbauten erfuhren durch vorgestellte Balkone und die neue Hofgestaltung eine Aufwertung. Hier wohnen nach Auskunft des Bauherrn einige Familien mit Kindern, was der Tendenz zum „Altenghetto“ entgegenwirkt. Zudem bieten die Neubauten noch mehrere große Gemeinschaftsräume, die dem ganzen Viertel offen stehen: einen Saal mit Dachterrasse im zweiten und einen Raum auf Straßenniveau im dritten Bauabschnitt. Beachtlich, was der gemeinnützige Bauherr hier an sozialer Nutzung zulässt, in einer urbanen Lage, die sicher auch kommerziell attraktiv wäre.

Die Baukosten des im KfW 60-Standard nach DIN 18025-1 errichteten ersten Bauabschnittes waren dabei mit 1 455 € brutto pro Quadratmeter Wohnfläche (2008) günstig. Aufgrund der vielen integrierten Freiräume sind die Kosten des BRI von 250 € (2. BA) noch aussagekräftiger. Bauherr und Architekt kennen sich seit dem Studium und haben schon mehrere Bauvorhaben miteinander realisiert. So handelte es sich hier um einen Direktauftrag. Da die Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft selbst eine große Planungsabteilung unterhält, übernahm diese einzelne Leistungen. So gestaltet und überwacht sie derzeit die Anlage der Innenhöfe und ist auch Ansprechpartner für bauliche Ergänzungen wie die Ausgestaltung der Gemeinschaftsräume. Hier leistet die GWG vorbildliche Arbeit. Der erste Bauabschnitt bekam bereits 2010 den Deutschen Bauherrenpreis verliehen.
Christoph Gunßer, Bartenstein

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