Kräfteverlauf in Holz und Stahl
Rotterdam Centraal

Zwei Tragwerke sind die Merkmale des Hauptbahnhofs Rotterdam: Das eine sichtbar als weitspannende Stahlkonstruktion mit Y-Trägern realisiert, das andere ein unter der großen Geste des Vordachs verborgenes Fachtragwerk. Nur zwei massive, mit Stein verkleidete Betonblöcke sind sichtbare Zeichen dieser Stahlkonstruktion, die letztlich völlig unter der Holz verkleideten Decke der Bahnhofshalle verschwindet.

Ein städtebauliches Projekt

Als Benthem Crouwel Architects gemeinsam mit MVSA Meyer en Van Schooten Architecten und West 8 als Team CS am international ausgeschriebenen Wettbewerb im Jahr 2003 für den Umbau des Rotterdam Centraal mitmachten, hatten sie bereits den Umbau der Hauptbahnhöfe Amsterdam, Den Haag und Utrecht gewonnen. Also alles Routine? Von wegen. Erst in der 2. Runde konnten sie sich schließlich gegen ihre fünf Konkurrenten mit ihrem klaren, funktionalen und in das Budget passenden Entwurf durchsetzen.

Das Team CS präsentierte eine Idee, in der die Bahnhofshalle, die Bahnsteigüberdachung und die Verbindung der beiden Elemente ein einziges Gebäude darstellen. Zusätzlich sollte der neue Bahnhof als wichtige Fußgängerverbindung zwischen dem Zentrum und dem Norden Rotterdams zwei vollwertige, aber auch unterschiedliche Eingänge bekommen und damit optisch den Kontrast zwischen der großstädtischen Südseite und der kleinmaßstäblichen Nordseite verstärken. Dementsprechend entwickelten die Architekten eine klein­teiligere, völlig transparente und gefaltete Glasfassade, die sich zum begrünten Kanal und den viergeschossigen Wohnhäusern auf der Nordseite öffnet. Wohingegen die Bahnhofshalle auf der Südseite mit einem steil aufragenden Dach den Haupteingang markiert.

Die Tragwerke der Bahnhofshalle und der Bahnsteigüberdachung wurden nach dem Vorentwurf ausgeschrieben, wobei ARCADIS als Tragwerksplaner und Projektmanager für die Ausarbeitung und Realisierung der Bahnsteigüberdachung beauftragt wurde. Die Ausarbeitung und Detaillierung des Fachtragwerks der Bahnhofshalle wurde hingegen von einem gemeindeeigenen Ingenieurbüro ausgeführt. Statisch besteht der neue Hauptbahnhof aus zwei Teilen, der Bahnsteigüberdachung mit seinen charakteristischen Y-förmigen Stahlstützen einerseits und der Fachwerkkonstruktion der Bahnhofshalle andererseits. Die Fußgängerpassage unter den Bahngleisen und die in der Bahnhofshalle gelegenen Büros an der West- und Ostseite spielen eine wesentliche Rolle in der Aussteifung der gesamten Konstruktion. Die beiden Dachkonstruktionen greifen ineinander, weshalb die Abstimmung der Zeichnungen und der Ausführung durch ARCADIS unumgänglich war. Daher bestand das Büro von Anfang an auf der Oberleitung der Tragwerksplanung.

Bahnsteigüberdachung

Dem Wunsch der Architekten nach einem Dach, das die 21 000 m² große Fläche der Bahngleise überspannt, entsprach eine Konstruktion mit Stahlbalken und Holzleimbindern. Drei verschiedene  Typen der Y-Stahlstützen tragen die Stahlbalken in Längsrichtung der Bahnsteige und werden durch die schlanken, 1,30 m hohen und letztendlich nur 140 mm breiten Holzleimbinder in Querrichtung verbunden und ausgesteift. Sie wurden in einem Abstand von nur 2,70 m angeordnet. So dienen sie der knapp 38 500 m² großen Bahnsteig­überdachung als Blendschutz. Die Y-Stützen sind ihrem Kräfteverlauf nach gestaltet. Die gerade Y-Stütze steht auf den Bahnsteigen. Die Y-Stütze, deren Fuß wie der Kopf ebenfalls in einer Y-Form enden und 90° gedreht sind, verwenden die Architekten bei den Aufgängen zu den Bahnsteigen. So schaffen sie einen weiten, stützenfreien Raum. Die dritte Variante ist eine Y-Stütze, deren Gabel in einem leichten Winkel abknickt, um sie auf dem Bahnsteig 7 zu platzieren. Dieser Bahnsteig ist wesentlich schmaler. Das bedeutet, dass die „normalen“ Y-Stützen zu nah an der Bahnsteigkante stehen würden, was aus sicherheitstechnischen Gründen nicht möglich ist.

In den hohen, vorgefertigten Stahlstützen sind alle Leitungen unsichtbar untergebracht. Die Stahllängsträger bestehen aus zwei unsichtbar miteinander verbundenen Profilen, einem Hohlprofil im unteren Teil und einem U-Profil im oberen, das gleichzeitig das Regenwasser ableitet. Durch die Y-artige Form der Stützen, die in der Mitte der Bahnsteige in einem Abstand von 32,4 m positioniert sind, konnte ihre Anzahl bei einer maximalen Überspannung auf ein Minimum reduziert werden.

Darüber faltet sich das 250 m lange und 155 m breite Dach, das mit seiner maximalen Höhe von 16 m eine in sich stabile Konstruk­tion bildet, die von den Architekten mit einem Gewächshausdach verglichen wird. Die einfache „Gewächshauskonstruktion“ der Bahnsteig­überdachung ermöglichte nicht nur eine einfache Gliederung der Bauphasen, sondern auch eine gute Kontrolle des Zeitplans. Da der Bauplatz, vor allem bedingt durch der permanente Anwesenheit der Reisenden und aufgrund der parallel laufenden Arbeiten, sehr begrenzt war, wurden ein Großteil der Bauarbeiten für die Bahnsteig­überdachung und die Abrissarbeiten von den Schienen aus geregelt. Der Umbau erfolgte sukzessive. Die zwei umgebenden Gleise des Bahnsteigs wurden stillgelegt, um die Materialien per Zug anzuliefern. Das bedeutete, dass die Abmessungen und das Gewicht der zu liefern­den Materialien im Vorfeld genau abgestimmt sein mussten. Innerhalb von sechs Monaten war das Dach montiert. Als Teil des Energiekonzepts und der grafischen Gestaltung wurden in das Glasdach 130 000 Solarzellen auf rund 10 000 m² Fläche eingearbeitet, wobei ihre genauen Positionen mittels Sonnenstudien berechnet wurden, die auch den Schattenwurf der zukünftigen Hochhäuser entlang des Bahnsteigs 1 berücksichtigen. Mittels dieser Solarzellen können 15 % des Energieverbrauchs des Bahnhofs abgedeckt werden bei einer jährlichen Stromproduktion von 340 MWh, womit das Dach zu einem der größten Solarprojekte in Europa zählt.

Bahnhofshalle

Das Dach der Bahnhofshalle mit seinen transparenten Glasfassaden hat ohne Vordächer eine maximale Höhe von 30 m, eine maximale Länge von 165 m und eine maximale Breite von 70 m. Es besteht aus drei Hauptfach-werks­trägern unterschiedlicher Höhe in Nord-Südrichtung und den dazwischen befestigten Querträgern, die auch die Dachform bestimmen. Das Dach wurde zugunsten des großzügigen Bahnhofsvorplatzes und aus kostentechnischen Überlegungen – das Geld wurde zur vollflächigen Überdachung der Gleise verwendet – kürzer ausgeführt als vorgesehen.

Auf der Südseite ist es auf zwei massiven, sichtbaren Betonblöcken gelagert, welche die Lasten in die darunterliegenden Schlitzwände der Metrostation ableiten. Die großen Überspannungen in Nord-Süd-Richtung, wie auch in Ost-West-Richtung wurden konstruktiv durch die Metrostation notwendig. Der Bau der Metrolinie RandstadRail, die in diesem Bereich unterirdisch verläuft, wurde vor dem Bahnhofsbau und ohne Abstimmung mit diesem realisiert. Da die Decke der Metrostation keine Lasten aufnehmen konnte, wurden sieben weitere Auflager im Bereich der beiden Bürovolumen und des zweiten Bahnsteigs angeordnet.

Die beiden Bürovolumen sind Stahlkonstruktionen mit einem aussteifenden Betonkern und den Stahlbalken, die die Verbindung zu den quadratischen Stahlstützen aus Hohlprofilen an den Rändern herstellen. In diesen beiden Volumen konnten drei der Auflager beinahe unsichtbar eingearbeitet werden, wobei die Büroräume eine essentielle Rolle in der Ost-West-Aussteifung des Gebäudes spielen.

Die Fußgängerpassage unter den Gleisen ist im Wesentlichen eine rechteckige Box mit einer Gesamtbreite von etwa 50 m und einer Länge von 135 m, wobei beiderseits des 15 m breiten Ganges ca. 17 m tiefe Geschäfte zu finden sind. Die sieben Bahnsteige und Gleise scheinen diesen 3,4 bis 4,8 m hohen Luftraum wie Brücken zu überqueren, wodurch eine optisch sehr leichte und lichtdurchflutete Einkaufszone entsteht. Vollständig und ohne Unterbrechung musste der Bahnhof während des Umbaus in Betrieb bleiben, weshalb eine straffe Baustellenlogistik bis hin zur Fertigstellung der Bahnhofshalle, der Bahnsteig­überdachung und der Fußgängerunterführung notwendig war. Erschwert wurden die Arbeiten durch den gleichzeitigen Bau der Metrostation unter der Bahnhofshalle.

Ein Dach, das arbeitet

Laut Jan Schouten, dem Projektmanager von ARCADIS, und dem Stahlbauer Harry Beertsen waren vor allem die seitlich angreifenden Windlasten besonders zu berücksichtigen. Aus diesem Grund wurde das Modell verschiedenen Windbelastungstests im Windkanal unterzogen, u. a. mit den geplanten Hochhäusern an der Südseite des Gebäudes. Aufgrund der großen horizontalen und vertikalen Verformungen der Überdachungen durch Temperaturveränderungen und den seitlichen Winddruck konnte das Stahltragwerk in den südlichen Auflagern nicht fest eingespannt werden. Diese Auflager wurden mit speziell angefertigten Gleitlagern aus Gummi und rostfreien Stahlplatten ausgeführt.

Auch bei der Materialwahl, der Montage der Decke und der Eindeckung musste auf die Verschiebungen Rücksicht genommen werden, indem die Falze der Dachplatten aus rostfreiem Stahl besonders groß ausgebildet wurden. Darüber hinaus wurden an mehreren Stellen Dehnfugen eingebaut und die Fassaden an der Stahlkonstruktion montiert. Michael Koller, Den Haag

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