HessenChemie, Wiesbaden

Gebauter Kunststoff
HessenChemie,
Wiesbaden

Kunststoff gibt es seit den 1960er-Jahren, mineralgefüllter Kunststoff wird seit etwa acht Jahren als Fassadenmaterial verwendet. Dass es sich aufgrund der bauphysikalischen Eigenschaften lohnt, den Hybridwerkstoff eingehend zu betrachten, zeigt der Neubau des Verbands HessenChemie in Wiesbaden. grabowski.spork architekturen entwarfen mit dem „Vereinsheim“, wie es vom Bauherrn liebevoll genannt wird, ein Stück gebauten Kunststoff.

Die Oberste Bauaufsichtsbehörde in Hessen empfiehlt, „das Zustimmungsverfahren bereits in einem frühen Planungsstadium durch einen formlosen Antrag einzuleiten.“ Das haben grabowski.spork architekturen beherzigt, als sie für das neue Verbandsgebäude der HessenChemie in Wiesbaden ein Fassadenelement verwendeten, das zum Zeitpunkt der Verwendung noch keine allgemeine bauaufsichtliche Zulassung hatte. Trotzdem dauerte die Bewilligung der Zulassung im Einzelfall (ZiE) nach Hessischer Bauordnung (HBO) durch das Hessische Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Landesentwicklung (HMWVL) ein knappes Jahr. Das lag v. a. an dem Material, das keine Vergleichsmöglichkeiten bot. ZiE können in Hessen für Bauprodukte aus Glas und Themen des Brandschutzes eingereicht werden. Kunststoff ist noch verhältnismäßig unbekannt. Schließlich ist das an der Fassade des Neubaus verwendete mineralgefüllte Acrylglas, das mit Hinterschnittankern auf einer Aluminium-Unterkonstruktion befestigt ist, ein Prototyp in Deutschland. Des­wegen verglich das Ministerium das Fassadenelement mit einer punktgehaltenen Glasfassade. Das zögerte die ZiE hinaus. Insbesondere aufgrund der Halterung mussten die Architekten und der Produkthersteller eine ZiE einholen. Dabei kritisiert Thomas Ries, Architekt bei dem Hersteller des Fassadenelements, „den fehlenden Mut der deutschen Behörden“ und verweist auf ein Gebäude in Utrecht/NL, dessen Gesamttragwerk aus mineralisch gefülltem Acrylglas besteht. „Die Holländer sind offener“, sagt Ries, und weiter, „da die ZiE föderal geregelt ist, gibt es erhebliche Unterschiede, wie lange eine Zustimmung dauert.“ Denn administrative Prozesse verlangsamen oftmals eine ZiE, da gegenüber neuen Materialien in den bauaufsichtlichen Entscheidungsgremien oftmals Skepsis herrsche.

Bekanntes Material neu angewendet

Dabei ist das Material nicht vollkommen neu. Mineralkunststoff wird seit den 1960er-Jahren hauptsächlich im Innenausbau verwendet – als Arbeitsplatten in Küchen zum Beispiel. Seit ca. acht Jahren wird der Hybridwerkstoff auch an der Fassade eingesetzt. Hybrid bedeutet, dass zwei Bestandteile zu einem Material verbunden sind. Das weiße Fassadenelement besteht aus knapp 70 % mineralischem Füllstoff und ca. 30 % Acrylharz – es ist homogen durchgefärbt, langlebig, nachhaltig, nahezu wartungsfrei und recycelbar. Da das Material versprödungsfrei ist, kann es im Grunde nicht mechanisch verformt werden – also nicht brechen. Das beeinflusst die Wartung positiv. Letztlich müssen die Fassadenplatten selten ausgewechselt werden, lediglich alle 10 bis 15 Jahre müssen sie aufgrund ihrer porengeschlossenen Oberfläche gereinigt werden. Allein die geschlossene Oberfläche hält Schmutz ab. Dennoch kann hier nicht von einem Lotuseffekt gesprochen werden. Das Material ist nicht zusätzlich beschichtet. Das Fassadenelement des Neubaus der HessenChemie kann recycelt werden, indem das Material zermahlen wird und in seinen feinen Bestandteilen in den Zyklus anderer Mineralwerkstoffe zurückgeführt wird.

Mit den unsichtbaren Hängepunkten und dem speziell entwickelten Fugenbild ist eine eigene Ästhetik entstanden. Dass die Unterkonstruktion aus Aluminium mitsamt den Hinterschnittankern im Gegensatz zum Fassadenmaterial recht konventionell sind, gründet sich auf ökonomischen Entscheidungen und der ZiE. Zum einen lässt sich ein Produkt unkomplizierter vermarkten, zum anderen ist die nötige ZiE einfacher zu erlangen, wenn die Befestigung bekannt ist. Zudem entschied sich der Bauherr für dieses Material, da es thermisch verformbar ist und somit die Kubatur des Gebäudes – abgerundete Ecken – nachzeichnet.

Kritisch wurde noch mal die Suche nach einer geeigneten, ausführenden Fassadenfirma. „Gute Firmen zu finden, die Lust auf ein neues Produkt haben, obwohl sie es nicht kennen, ist schwierig“, sagt Grabowski. Um das Leistungsverzeichnis zu vereinfachen trennten die Architekten die Ausschreibung der Fenster und der Fassade. Als eine geeignete Firma gefunden war, Glas Wagener, gab es Gespräche, um die Skepsis gegenüber dem Material zu nehmen. Unüblich ist, dass der Hersteller die ZiE veranlasst, in der Regel übernimmt sie die beauftragte Firma. Bei dem Gebäude der HessenChemie war dies dennoch absolut notwendig, um „der ausführenden Firma die Bedenken vor dem neuen Material zunehmen“, sagt Grabowski. So begleiteten die Architekten die ZiE beratend. Auch der Gutachter musste neuen Materialien gegenüber aufgeschlossen sein. Gemeinsam mit dem Gutachter prüfte der Hersteller im Prüfprogramm, das für die ZiE verlangt wird, das Material auf Wasseraufnahme, Längenausdehnung etc. und machte einen Belastungstest. Das Ergebnis: Ein Fassadenelement mit Abmessungen von 1,35 x 0,80 m bietet eine sechsfache Sicherheit.

Das dreigeschossige Bürogebäude der HessenChemie bündelt die beiden ehemaligen Standorte des Verbandes nun an einem Ort. Die Architekten sprechen von Corporate Architecture – also durch Architektur die Unternehmensphilosophie zeichenhaft im Stadtraum zu manifestieren. Das ist ihnen in enger Zusammenarbeit mit dem Bauherrn, dem Hersteller und der verarbeitenden Firma gelungen.

Experiment im Kostenrahmen

Der Verband HessenChemie präsentiert mittelständische Unternehmen der chemischen und kunststoffverarbeitenden Industrie. Das spiegelt sich in dem Konzept wider, das vorsah, möglichst viele Mitgliedsunternehmen in die Ausführung einzubinden. Die Suche nach geeigneten Unternehmen übernahmen die Architekten, indem sie eine von dem Verband gestellte, umfangreiche Exceltabelle sichteten, die alle Mitgliedsunternehmen auflistet. So setzten sich die Architekten intensiv mit den Mitgliedsunternehmen und deren Produkte auseinander.

Der bestimmende Faktor für viele Entscheidungen waren die Baukosten. Grabowski sagt: „Aufgrund der einzuhaltenden Baukosten hat sich das Fassadenraster nochmals verkleinert.“ Und der Bauherr bestätigt: „Wir wollten die Fassade unbedingt, nur die Kosten mussten eingehalten werden.“ Dies hatte ein behutsames Vorgehen zur Folge und erforderte immer wieder Rücksprache zwischen Architekten und Bauherrn. Gleichzeitig jedoch verlangsamte dieses Vorgehen den Bauprozess, weswegen das Gebäude fünf Jahre nach dem Grundstückskauf fertiggestellt wurde – im April 2014. Die Architekten betreuten alle LPH – sie waren Entwerfer, Bauleiter und Projektsteuerer. Konstant arbeiteten drei bis vier Mitarbeiter mit Projektleiter Benjamin Leppelt an dem Gebäude.

Die Architekten Grabowski und Spork bringen Erfahrung mit, was den Umgang mit neuen Materialien betrifft. „Experimentierfreudig sind wir als Architekten gerne, sofern man uns lässt“, sagt Grabowski. Obwohl die Zusammenarbeit mit dem Bauherrn gut war, war das Projekt auch anstrengend, da es viele ungewisse Variablen gab: Wird das Material das Prüfprogramm bestehen? Wird die ZiE rechtzeitig erteilt? Zudem gab es keinen Bauherrenvertreter, der die Anliegen der zukünftigen Nutzer bündelte. „Was einem Bau von 44 Einfamilienhäuser gleichkam“, sagt Grabowski lachend. Und der Bauherr stimmt zu, dass alle Abteilungen in den Bauprozess involviert waren. Das mag aufreibend gewesen sein, dennoch herrscht immer noch eine gute Stimmung zwischen den am Bau Beteiligten. Und man kann deutlich spüren, dass ein gewisser Stolz über das Erreichte mitschwingt, als sie durch das Gebäude führen. Grabwoski fasst es mit einem Satz zusammen: „Wir haben neue Prozesse kennengelernt.“ Eine Erfahrung, die allen Beteiligten in Zukunft zugutekommt. Zurzeit läuft die allgemeine bauaufsichtliche Zulassung des Fassadenelements. S.C.

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