Flügelleichte Leselandschaft

Am Montag, 22. Februar 2010, wird das „Rolex Learning Center“ auf dem ETHCampus in Lausanne eröffnet (Arch.: SANAA, Tokyo)

Bibliotheken haben etwas, werden – aller Miniaturisierung oder gerade dessenthalben zum Trotz – eine Zukunft haben, die Bahnhöfe, Kaufhäuser oder Schulkindergärten nicht gewiss ist. Wer ein Haus für Bücher und Leser bauen darf – sei sie nun eine große private, eine kleine öffentliche oder gar eine Hochschul-, Landes- oder Staatsbibliothek – wird ähnliches Glück empfinden, wie wenn er oder sie eine Kirche plant und baut. Beide stehen für das Überalltägliche, das kulturell prägende und geprägt, die Kultur schlechthin. Mehr als ein Museum, das letztendlich nur die Kunstmoden der jeweiligen Zeiten abbildet oder sich einem Kunstkanon verpflichtet sieht, der sich wiederum einem Kunstmarktranking unterwirft, mehr als also ein solcher Bau der Kultur ist die Bibliothek ein Ort, in dem alle Museen der Welt anschaulich werden, ihre Inhalte hinterfragt, ja auch infrage gestellt werden können. Und so kommt es nicht von ungefähr, dass Bücherhäuser immer auch als gestaltete Welten interpretiert werden, mal etwas pessimistisch als undurchdringliche Labyrinthe, die allerdings den Genuss des Sichverlierens bieten, mal euphorisch als tageslichthelle Tempel der Aufklärung, des Wissens. Oder als Landschaften, Hügellandschaften.

In Lausanne haben letzteres die Japaner Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa von SANAA wortwörtlich genommen, ihr „Rolex Learning Center“ auf dem ETHCampus in Lausanne ist eine Landschaft. Aus der Luft betrachtet wirkt diese in der rektangulären Struktur des Campus (Arch.: Jakob Zweifel, Masterplan 1970) fremd wie ein Schneefeld auf grüner Wiese, in welches hinein die Sonne bereits die ersten Löcher gebrannt hat. Mit 167 m Länge und 122 m Breite ist das „Rolex Learning Center“ (RLC) das Ergebnis eines Wettbewerbs des Jahres 2004, den SANAA gegen eine Konkurrenz von 180 Architekten aus 21 Ländern gewann.

Gut 800 Arbeitsplätze bietet der Neubau, 500000 Bücher stehen zum Studium bereit. Es gibt in dem Auf und Ab der Räume und ihrer oft über dem Boden schwebenden Verbindungsflächen neben den Büro- und Archiv- und Leseräumen zudem ein schönes Restaurant (keine neolichtkalte Mensa), einen Selbstbedienungsservice und, endlich hat einmal ein Planer einer Bibliothek daran gedacht!, eine Buchhandlung. Um hier einzukaufen oder im Restaurant speisen zu können, steht die Filiale einer natürlich Schweizer Bank ebenfalls zur Verfügung.

Um die extrem schmalen Betonhüllenquerschnitte auch realisieren zu können, arbeitete SANAA mit den Ingenieuren von Bollinger + Grohmann aus Frankfurt a. M. zusammen (mit deren Schweizer Kollegen von Losinger und Walther Mory Maier). Die Konstruktion besteht aus frei gespannten Stahlbetonschalen, die von lediglich elf diagonal ausgerichteten Unterspannbögen getragen werden. Das sich parallel zum Boden wellende Stahldach ruht auf dünnen Stahlsäulen; was an die Serpentine Gallery, London, erinnert. Überhaupt ist das RLC eine Mischung aus Vorgängerprojekten der in Tokio ansässigen Kultarchitekten; man denke hier an den gläsernen, extrem in die Horizontale greifenden Museumsbau in Kanazawa (2008), und noch mehr an den Glas Pavillon in Toledo, Ohio (2006), die beide das Thema der Landschaft als geschützter, vielgestaltiger und vor allem künstlicher Lebensraum thematisierten.

Am kommenden Montag, 22. Februar 2010, wird das RLC für alle geöffnet, ab dann heißt es wohl: Leser und Architekturbegeisterte, willkommen! Denn die so poetisch „Landschaft“ genannte Architektur könnte auch als ein Modell für die Bauzukunft gelten. Der Leuchtturm (hier ist er wieder) zog die bereits über den Campus verstreuten Sponsoren an, welche die Hälfte der etwa 75 Millionen Euro Baukosten (beziehungsweise Bauleistung) beisteuerten. Damit hat die Forderung des Auslobers und Bauherren, dass sich unter den im Wettbewerb Letztplatzierten ausschließlich Kunstwerke der zeitgenössischen Architektur zu befinden haben, Früchte getragen. Hoffentlich trägt der flügelleichte Beton die Massen seiner Nutzer und Bewunderer! Be. K.

Ein Film im Schweizer Fernsehen, anlässlich der ersten Pressebesichtung vor einigen Tagen. Bitte hier klicken.

Sponsoren:

Finanziert wurde das Rolex Learning Center von der Schweizer Regierung und mehreren bekannten Schweizer Firmen. Die Mitwirkung von Rolex an diesem Projekt ist das Ergebnis langjähriger Zusammenarbeit mit der ETH Lausanne in der Materialforschung und der Mikrotechnologie für Applikationen in der Uhrenherstellung; zudem engagiert sich Rolex traditionell in Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur und hat zwei Förderprogramme ins Leben gerufen, die Rolex Preise für Unternehmungsgeist sowie die Rolex Mentor und Meisterschüler Initiative. Logitech leistete den ersten Beitrag mit der Finanzierung des Architekturwettbewerbs. Die Firma Losinger, die zur Bouygues-Gruppe gehört, war Sponsor und führte zugleich den größten Teil der Bauarbeiten aus. Credit Suisse, ebenfalls Finanzierungspartner, wird im Gebäude das Future Banking Laboratory unterhalten. Weitere weltweit tätige Schweizer Firmen, die zur Finanzierung des Baus und zu Forschung und Innovation beitrugen, sind Nestlé, Novartis und SICPA.

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