Fenster zum Platz
Alterszentrum in Maienfeld/CH

Um die Bewohner stärker ins öffentliche Leben einzubinden, entstand im Dorfkern von Maienfeld ein Altersheim mit einer großen Eingangshalle. Sie ist Zentrum, Treffpunkt, Dorfplatz, fördert Blickkontakte und prägt den Grundriss der Wohnetagen mit ihren Gassen und Nischen.

In Altersheimen herrscht nach dem Mittagessen oft eine gespenstische Ruhe. Vom Alterszentrum in Maienfeld, einem 2 500-Seelen-Dorf im Kanton Graubünden, kann man das nicht behaupten: Wer durch den geduckten Eingang die viergeschossige Halle betritt, sieht die Pensionäre – meist weit über 80 Jahre alt – an vollbesetzten Tischen Karten spielen. Eine Stunde zuvor zum Mittagstisch waren die Schüler der Dorfschule da, auch Dorfbewohner schauen immer öfter auf einen Espresso in der Cafeteria vorbei. Die Architekten sehen die Halle als öffentlichen Treffpunkt und Dorfplatz.

Virtuoser Lichtraum

Die Halle: Sie ist das eigentliche Wunder des Neubaus. Treffpunkt, An­kunfts- und Abschiedsort, Kreuzung aller Wege, das Herz des Alten­heims. Rund zwölf Meter tief fällt die Sonne durch fünf trichterförmige Oberlichter, bespielt die verwinkelten Seitenwände, spiegelt sich auf dem gelb schimmernden, geschliffenen Hartbetonboden. Vor- und Rücksprünge, Durchgänge und Einschnitte gliedern den virtuosen Lichtraum, formen intime Sitznischen am Rand. In den Obergeschossen sitzen große, mit breiten Eichenholz-Laibungen gerahmte „Schaufenster“ wie Bilder an den Wänden. Dahinter sitzen Senioren an Esstischen oder stehen im Flur und ­blicken hinab in die Halle. So nehmen auch die, die nicht mehr so beweglich sind, visuell am Geschehen teil. Die Bewohner in das öffentliche Leben einzubinden, ist einer der wichtigsten Grundgedanken des Entwurfs. Bis letzten Sommer waren sie in einem rund dreißig Jahre alten Heim am Dorfrand untergebracht, abgeschnitten vom Treiben im Dorf. 2008 schrieb die Stiftung Alterszentrum Bündner Herrschaft einen offenen Wettbewerb für einen Neubau aus, um das Altersheim in die Dorfmitte zu holen. Der junge Architekt Dominik Isler gewann und gründete daraufhin ein Büro mit seinem ehemaligen Studienkollegen Manuel Gysel. Zusammen mit den beiden Zürcher Architekten Christof Bhend und Sergej Klammer planten und realisierten sie den Neubau.

Ohne vorne und hinten

Dass den Architekten ein großer Wurf gelang, liegt – neben der Halle – an der skulpturalen Form des Gebäudes und den Ausblicken, die jedes der 50 Einzel- und zwei Doppelzimmer eröffnet. Das Haus hat weder Vor- noch Rückseite, sondern zehn gegeneinander versetzte Fassaden, die Blicke in alle Richtungen erlauben: auf den Garten und den rauschenden Mühlbach, die spitz aufragenden Berggipfel der Alpen, die benachbarte Dorfschule, die angrenzenden Wohn- und Geschäftshäuser und das den Dorfkern beherrschende Schloss Brandis.

Ein kleinteiliger Außenraum aus Plätzen, Wiesen, Baum-, Blumen- und Kräutergärten umfasst das Heim. Die Fenster sitzen streng gerastert in der Fassade, eingefasst von dunklen Holz-Metall-Rahmen. Der mineralische, graubraune Putz glitzert je nach Wetterlage in der Sonne oder lässt das Gebäude bei Regen dunkler erscheinen. Die Oberfläche wurde nach dem Auftragen mit einer Bürste nachbearbeitet und mit einem Schwamm ausgewaschen, so dass die Zuschlagsstoffe – weißer Sand und dunkler Glimmer – zum Vorschein kamen. Der erdige Farbton orientiert sich an den historischen Bauten und den straßenbegleitenden Umfassungsmauern im Dorfkern.

Spaziergang durch die Gassen

Der Entschluss, ein ringförmiges Haus zu bauen, prägt den Charakter der Wohngeschosse: Statt langer Korridore entstand eine Abfolge aus Gängen und Sitznischen – vergleichbar mit den Gassen und Plätzen eines Dorfes. Entlang der „Gassen“ sind außen die Zimmer untergebracht, innen bündeln große Kuben die Versorgungsräume wie Küchen, WCs, Waschräume oder Stationszimmer. An Ecken und Knickpunkten weiten sich die Gassen zu Plätzen aus – auf einigen Plätzen stehen Esstische und Stühle – die Pensionäre essen nicht in einem Saal, sondern in kleinen Wohngruppen auf der Etage. Andere Plätze dienen als halböffentliche „Wohnstuben“, die die Bewohner selbst eingerichtet haben: mit Plüschsesseln, Kommoden oder Liegestühlen aus ihren alten Wohnungen. So entsteht ein kleiner, abwechslungsreicher Rundlauf, der zu Spaziergängen einlädt und die Wohnetagen in überschaubare Einheiten gliedert. „Wir hatten zunächst Angst, dass der Grundriss labyrinthische Züge annimmt“, sagt Manuel Gysel. „Aber die Bewohner finden sich erstaunlich gut zurecht.“

Das liegt zum einen an der Maßstäblichkeit, die den eingeschränkten Bewegungsraum alter Menschen berücksichtigt. Zum anderen prägen vertraute Materialien den Raum: feinkörniger Putz, Holzparkett und Sichtholztüren aus Eiche.

Deckenbündige Downlights mit goldfarbenen Reflektoren spenden war­mes, wohnliches Licht. Orientierung vermitteln auch die Fenster, durch die die Bewohner in die Halle blicken: Manchmal entdecken sie ein vertrautes Gesicht in einem der anderen „Guckkästen“ und winken sich zu.

Im Garten für Demente

Pro Etage gibt es zwei Wohngruppen mit je zehn bis zwölf Bewohnern. Jede Gruppe hat einen Namen – benannt nach Burgen oder Bergen in der Region – und eine eigene Farbe, die auf Wegweisern und Schildern auftaucht.

Im 1. Obergeschoss wurde eine Wohngruppe für Demenz­kranke eingerichtet. Da sie nicht ohne Begleitung den Garten nutzen können, planten die Architekten für sie eine windgeschützte, von einer raumhohen Mauer umschlossene Außenterrasse. Eingeschnittene Fenster ermöglichen Ausblicke zu drei Seiten in die Berglandschaft. Ein nach innen auskragender Dachrand schützt die Bewohner vor Regen. In einem Pflanztrog auf Rollstuhlhöhe können sie im Sommer gärtnern.

Die 17 m2 großen Einzelzimmer sind identisch geschnitten und mit einem rollstuhlgerechten, schwell­en­losen Duschbad ausgestattet. An jeder Zimmertür steckt ein Portraitfoto oder ein persönliches Accessoires des Bewoh­ners in einem kleinen Holzrahmen. Im Zimmer eröffnen raumhohe Fens­ter mit Brüstungen aus Sicherheits­glas den Blick in die Landschaft. Ein Schalttableau auf Griffhöhe über dem Bett bündelt Licht, Dimmer, die Fernbedienung für die Storen und den Rufknopf.

Keine Barrieren

„Uns war wichtig, dass man vom Bett aus ins Freie blickt, nicht auf eine weiße Wand“, sagt Architekt Manuel Gysel. Er sitzt selbst im Rollstuhl und kennt die Blickbarrieren, die Rollstuhlfahrern ebenso wie bettlägrigen Menschen aufgrund ihrer eingeschränkten Sichthöhe oft begegnen. Natürlich gibt es auch im Alterszentrum in Maienfeld Senioren, die sich kaum noch bewegen können, scheinbar teilnahms- und regungs­los ins Leere starren.

Der Neubau zeigt jedoch eindrucksvoll, wie wichtig regelmäßiger Aus­tausch und Sichtkontakt ist – gerade für Ältere, die sich nicht mehr gut bewegen können. Das Teilhaben am Geschehen, Gespräche, Spiele und Blickwechsel mit Gleichaltrigen ebenso wie mit Kindern und Jugendlichen regt sie an und aktiviert ihre Sinne.

Zur Eröffnung des neuen Alterszentrums kam übrigens das halbe Dorf. Kinder ließen Luft­ballone steigen, in den Wohnstuben spielten Musikgruppen. Öffentliche Spielnachmittage, der Mittagstisch oder eine kleine Theateraufführung lassen die verschiedenen Generationen einander näher kommen und bringen Leben ins Haus. Brauchen alte Leute nur ihre Ruhe? Von wegen. Michael Brüggemann, Mainz

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