Martin-Luther-Kirche, Hainburg/A

Ein Wolkendach,
wie hingehaucht
Martin-Luther-Kirche, Hainburg/A

Wolf D. Prix hat für die evangelische Kirche seiner Heimatstadt ein silbrig schimmerndes Dach entworfen, das in freien Formen und drei Öffnungen die Verbindung zwischen dem Dies- und Jenseitigen symbolisieren soll.

Von Wien aus geht’s durch flaches Land. Vorbei an walmgedeckten Häuschen, die sich in die Landschaft ducken oder sich zu ausfransenden Straßendörfern häufen. Endlose Baumreihen, weite Felder und Weinstöcke. Die Donau fließt hier breit und träge. Der Neusiedler See ist nicht weit, in der Ferne leuchten die kleinen Karpaten. Kurz vor Bratislava – zu K.-u.-K.-Zeiten hieß es noch Preßburg – versperren
die Stadtmauern von Hainburg die Sicht. Ein Städtchen, das fast ein halbes Jahrhundert lang am Ende der Welt schien, ein knapp 6000-Seelen-Kaff in der niederösterreichischen Provinz, das mehr als vier Jahrzehnte den Dornröschenschlaf am Eisernen Vorhang, an der Grenze zwischen Ost und West schlief. Dort wurde 1942 Wolf D. Prix geboren, dort, wo sein Vater als Architekt wirkte, hat er seine Jugend verbracht. Und dorthin ist Hainburgs neben Joseph Haydns Groß-
vater berühmtester Sohn am 30. April dieses Jahres zurückgekehrt – zur Einweihung der Martin-Luther-Kirche. Seiner Kirche, seine Heimatstadt - hat er doch den Entwurf für das Gotteshaus der evange-
lischen Gemeinde und der Stadt geschenkt.


Der Wurf

„Entwerfen kommt von werfen” hat Prix einmal gesagt. Doch in Hainburg hat er der kleinen, etwa 350 Mitglieder starken evangelischen Gemeinde nichts nach dem Motto „Friss oder stirb“ hinge-
worfen. Und auch der Stadt nicht. Wer einen monumentalen, jeden Maßstab sprengenden Tempel erwartet hätte, wird enttäuscht. Im Gegenteil, der Bau fügt sich ein. Nimmt Fluchten auf, Höhen, Dimensionen, will keine Sonderrechte. Steht nicht mal frei, sondern duckt sich neben einer Turnhalle, ja wanzt sich geradezu an die Halle an. Ein trapezförmiges Eckgrundstück, vier Gebäudeteile – Kirche, Gemeindesaal, Riegel mit Sakristei, Pfarrbüro, Küche und Sanitärräumen sowie der skulpturale Glockenturm –, durch einen glasdeckten Flur verknüpft. Und ein kleiner Garten. Gesamtfläche 289 m², ein äußerst knappes Budget in der Höhe von insgesamt 1,4 Millionen Euro. Es gibt Perspektiven, in denen der Bau winzig, bescheiden, ja kärglich erscheint. Freilich, andere Standpunkte kann man einzunehmen, in denen der Bau großartig, gewaltig, genial wirkt. Der Streetfighter unter den Architekten – wer einmal in Coops Wiener Büro anruft und weiterverbunden wird, lauscht dem Stones-Song „Street fighting man“ – hat eine sehr gute Balance gefunden. Er hat sich eingelassen auf das städtebauliche Gefüge. Er ordnet sich nicht unter, aber ein – und das mit Prix’schem Selbstbewusstsein.

Manchmal kommt der Eindruck auf, als wolle der Coop-Gründer mit diesem Werk, das einem ganzen Spektrum von Verweisen auf die jüngste Kirchenbaugeschichte ausgestattet ist, seinem Heimatstädtchen ein halbes Jahrhundert verschlafener Architekturmoderne zurückbringen. Das Dach, die angedeuteten Obergaden – wer wollte da nicht an Notre-Dame-du-Haut de Ronchamp denken? Die drei Dachöffnungen – allzu schnell erinnert man sich an die Kapelle von Sainte-Marie de La Tourette. Dagegen der beinahe triviale Eingang – als wollte Prix den als „Trash Architecture“ gewürdigten Gemeindezentren der Wiener Referenz erweisen. Wer nur will, kann auch in den Lichtkreisen der Holzwand, die sich an die gläserne Südfassade anschließt einen Wink auf Heinz Tesars Donaucitykirche in Wien erkennen. Und der Glockenturm? Ein freistehender, rund 20 m hoher Campanile, der als Stimmgabel geformt ist und symbolisch die Gläubigen auf den richtigen Ton einstimmen soll. Dass Prix mit dem freigeformten Stahldach auf den Beitrag verweist, den er selbst der modernen Architekturgeschichte erwiesen hat, sollte nicht unerwähnt bleiben.

Le Corbusier, der nicht praktizierende Kalvinist, entwarf katholische Kirchen, in denen das Mysterium geradezu gefeiert wird. Prix, der nicht praktizierende Katholik, entwarf ein protestantisches Gotteshaus, das Sachlichkeit, Rationalität, innere Zurückhaltung zelebriert. Ganz nach protestantischer Tradition hängen keine Bilder an den schmucklosen Wänden, es gibt keine schweren, handgeschnitzten Sitzbänke, sondern leichtes, bewegliches Gestühl, der auch räumlich wenig repräsentative, mit einer Faltwand zur Kirche verknüpfbare Gemeindesaal – ebenfalls mit drei Öffnungen gen Himmel – könnte gleichsam als Symbol für nüchterne Zweckrationalität stehen. Und im metallisch bauchigem Kanzelaltar – inspiriert, so Prix, von Henry Moores Skulpturen – beweist er, dass er einer schon fast vergessenen protestantischen Tradition neues Leben einzuhauchen weiß. Und doch – dieses Dach!

Man kann dieses Dach mit allen möglichen Attributen und Adjektiven beschreiben. Man kann Zahlen und Fakten benennen. Indes, auf diesem Wege wird man dem auf vier bleistift-dünnen, zehn Meter hohen Stahlstützen thronenden oberen Gebäudeabschluss nicht gerecht. Das Dach ist ein Erlebnis. Wie ein Wolke, die mal eben auf dem Kirchenbau ruht. Wie hingehaucht - um nachher weiterzuwandern. „Architektur veränderbar wie Wolken zu machen“, lautete der Vorsatz in Coops Anfängen. Dieses Temporäre, dieses Leichte, dieses fast schicksalshaft Zufällige des Wolkendaches ist vielleicht – jenseits der drei Öffnungen, die man allzu schnell, allzu platt als ein Symbol für die Trinität erklärte – die Verbindung zum Jenseitigen, die man einer Kirche für angemessen hält. Man denkt an die Kirchenarchitektur der 50er, 60er Jahre im vergangenen Jahrhundert und all die teilweise fantastischen Versuche, mit der Inszenierung des Lichts das Numinose des Glaubenserlebnisses ästhetisch zu bewältigen. Prix hat mit diesem Dach ein herrlich stimmiges Gleichnis gefunden, das dem Betrachter über manch allzu Sachliches, manch allzu Banales des Glaubensgebäudes hinwegtröstet.

Vom Prix-Team gezeichnet, von den Ingenieuren Bollinger + Grohmann mithilfe 3-D-Software in eine baubare Form umgesetzt, vom Stralsunder Unternehmen Ostseestaal – einst ein Zulieferer für Schiffs­bau – hergestellt und zusammengeschweißt, ist das Dach als raumfüllendes Volumen ausgebildet. Es ragt nach oben, aber auch nach unten. Die „Vulkane“ genannten Öffnungen schrauben sich wie eine Schnecke gen Himmel und wenden sich aber auch in den Kirchenraum. Ursprünglich sollte das Dach aus einem stählernen Volumen bestehen. Aus Akustik- und Brandschutzgründen hat man dann davon abgesehen. Die Innenseite ist nun weiß verputzt, was mit den ebenfalls weiß geputzten Wänden dem Kirchenraum ein einheitliches Gepräge gibt. Der Vorstellung, das silbrig schimmernde Volumen stülpe sich nach innen, erscheint eher unpassend. Die Gesamtform des Gebäudes leite sich von einem riesigen Tisch ab, heißt es im Erläuterungsbericht von Coop Himmelb(l)au. Das Dach lagert auf den vier Stahlbetonstützen des Tisches. Umschlossen wird der Tisch zur Straße hin von einer gefalteten Glaswand, die in eine geschlossene Wand übergeht, die mit großformatigen Eternit-Paneelen verkleidet ist. Diese Platten, deren Oberflächen 3-dimensional bearbeitet wurden und eine reizvolle Haptik bieten, werden ins Innere weitergeführt.

Aus welchem Gründen auch immer – man könnte einen biographischen Reflex vermuten – suchte Prix in dieser Kirche die Verbindung mit der Vergangenheit. Kein Kniefall vor, sondern eine Beziehung von der Gegenwart zu der Historie. Illustriert wird das zusätzlich durch seine Bemerkung, er sei von dem romanischen Karner inspiriert worden, der ein Steinwurf weg weit von der Kirche steht. Das Beinhaus – Entstehungszeit etwa 1 120 – hätte Maße und geschwungene Dachform vorgegeben. Die digitalen Mittel hätten diese zeitgenössisch übersetzt. Man erinnert sich an eines der ersten Coop-Projekte: an den Dachausbau in der Falkestraße, im Wiener ersten Bezirk. Trotz der expressiven Form blieb die Aufstockung – übrigens bei fast gleichen Kosten und Grundfläche wie die Kirche – im städtischen Kontext. Setzte zwar einen ästhetischen Kontrapunkt, respektierte aber das überkommene Gefüge. Ein Dach wie vom Wind gehaucht, leicht, fragil, zart, das sanft auf der Bebauung ruht… E.Santifaller, Frankfurt

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