Doppelt gekrümmt
Velodrome Radrenn-stadion, London/GB

Jedes Radrennstadion wird in erster Linie für zwei Zielgruppen gebaut: für die Radrennfahrer selbst und ihre Zuschauer. Für ein olympisches Fahrradstadion kommt die Zielgruppe der Fernsehzuschauer, die die Rennen weltweit verfolgen können, hinzu. Das Velodrome in London wurde zusätzlich für eine vierte Zielgruppe errichtet: die Amateurradfahrer, die nach den Spielen die Hauptnutzer werden.


Konzept

Der Bau des Velodroms in London wurde nur aufgrund einer guten Zusammenarbeit der Teams um Michael Taylor von Hopkins Architecs, Andrew Weir von Expedition Engineering und Klaus Bode von BDSP möglich.

Eine der treibenden Ideen des Entwurfs­teams war der Wunsch, ein effizientes Gebäude zu entwerfen, das in konstruktiver, funktioneller und umwelttechnischer Hinsicht höchsten internationalen Standards gerecht wird. Die Inspiration fand sich im Design von Hochleistungsfahrrädern – mit ihrer ergonomischen und aerodynami­schen Form, die auf maximale Effizienz abzielt, nach dem Motto: die Form folgt der Funktion.

Die Ingenieure wollten dieselbe Kreativität und ingenieurmäßige Sorgfalt, die in die Produktion eines Fahrrads fließt, auch in der Kons­truktion des Stadions umsetzen. Dieses Ziel konnte nur durch einen integrativen Entwurfprozess erreicht werden, der neben den ästhetischen Ansprüchen auch alle funktionellen, konstruktiven und umwelttechnischen Ansprüche gleichzeitig berücksichtigt. Ziel war es, ein möglichst kompaktes Stadion zu entwerfen, in dem alle nötigen Sekundäreinrichtungen in einem engen Perimeter um die Radrennbahn angeordnet werden sollten.

Die 250 m lange und 7 m breite Fahrradrennbahn wurde von Ron Webb entworfen und besteht aus FSC-zertifizierter sibirischer Kiefer. Dazu kommt auf der Innenseite ein 4 m breiter, blauer Sicherheitsstreifen. Die Neigung wechselt von 42° am steilsten Punkt an den Stirnseiten bis zu 12 ° an der flachsten Stelle der Längsseiten. Entscheidend für die gute Qualität der Fahrbahn ist die hohe Steifigkeit und der Durchbiegungswiderstand der Unterkonstruktion.

Die Untertribüne schmiegt sich eng an die Radrennbahn und ist für etwa die Hälfte des 6 000 Zuschauer fassenden Stadions konzipiert. Sie ist von der dahinterliegenden Haupterschließungszone zugänglich und bietet die für Radrennen in der olympischen Nachnutzung des Velodroms genügend Platz. Die Erschließungszone für das Publikum erstreckt sich über den gesamten Umkreis des Gebäudes und teilt das Stadion visuell in zwei klar differenzierte, horizontale Zonen. Dieser verglaste Bereich erlaubt Ein- und Ausblicke in und aus dem Stadion.

Darüber sitzt, weit nach außen gelehnt, die Obertribüne, die bei Großereignissen zusätzlich verwendet werden kann. Die Tribüne kragt weit über die Untertribüne und verleiht so dem Stadion seine charakteristische Form. Aufgrund der Steilheit der Fahrbahn an seinen Enden wurde die Mehrzahl der Sitze an den Längsseiten der Bahn angeordnet, wo auch die Sichtverhältnisse am besten sind. Um die Kontinuität der Zuschauermasse und der Atmosphäre zu garantieren, wurden auf Wunsch der Rennfahrer auch einige Zuschauerreihen an den Stirnseiten durchgezogen.

Die externe Form des Velodroms ergab sich durch das enge Anschmiegen der Fassade an die darunterliegende Stahlkonstruk­tion. Dadurch konnten das Innenvolumen – und damit das zu beheizende Luftvolumen – und die zu verkleidende Fassadenfläche optimiert werden. Die Dachform ist das Resultat des Spannens der Stahlseile bis zur Sitzschale, die an den Stirnseiten erhöht ist. Dadurch entstand das charakteristische, doppelt gekrümmte Dach.

Das Radrennstadion besteht aus drei distinktiven und konstruktiv unterschiedlichen Zonen: dem Dach, den oberen Sitzreihen mit dem Erschließungsbereichen und der Unterkonstruktion mit der Untertribüne.

 

Dach

Die Dachgröße (ca. 13 500 m²) und die bauphysikalischen Anforderungen an die Dämmung der Dach- und Fassadenflächen bestimmten das Konstruktionsprinzip des Gesamtgebäudes. Ein Stahlseilnetz als Unterkonstruktion des Daches bot sich an aufgrund seiner idealen Anpassungsmöglichkeit an die Form des Stadions, seines geringen Gewichts und seiner relativen Steifigkeit. ­Zusätzlich verbergen sich im Bau von Netzwerkkonstruktionen weniger Gefahrenmomente, da Arbeiten in großer Höhe limitiert sind und Zwischenkonstruktionen kaum nötig sind, was wiederum zu Zeit- und Kostenersparnissen führt.

Als Füllelemente wurden Holzkassetten aufgrund ihres geringen Gewichts, ihrer leichten Vorfertigung, des niedrigen, ihnen inhärenten Kohlendioxidgehalts und ihrer strukturellen Qualitäten an den Netzknoten fixiert. Die Ingenieure entwickelten ein Befestigungssystem, das die Bewegungen zwischen den relativ starren Holzpaneelen und dem relativ flexiblen Seilnetzwerk aufnehmen kann. Dabei verlangte vor allem das darüberliegende starre Stehfalzdach eine gute Kontrollierbarkeit der Kassettenbewegungen.

 

Oberbau

Die obere Schale trägt die Obertribüne. Sie wird durch einen ringförmigen Fachwerkträger gekrönt, der die Dachseile verankert. Die Form der Schale verlangte nach einer offenen Skelettstruktur, die die Integration der Belüftungssysteme und -elemente zuließ und gleichzeitig die komplexe Geometrie der gekrümmten Schale und des Ringträgers erlaubte. Konstruktive Überlegungen verlangten auch eine große Anzahl von Verbindungen mit aussteifenden Hohlprofilen.

 

Unterbau

Die meisten Sekundäreinrichtungen wurden unter der Erschließungsplattform angeordnet. Ihr Gewicht und die Fundamente erzeugen die nötige Gegenlast zu den Kippkräften, die in der Dachkonstruktion entstehen. Unterschiedliche Größen der Fundamente spiegeln die Veränderungen der durch die Horizontalkräfte im Dachseilnetz resultierenden Kippkräfte wieder. Die Robustheit der Unterkonstruktion wird durch eine gekrümmte Ortbetonschale mit Sichtbetonoberfläche gewährleistet. Diese dient gleichzeitig als Wärmespeichermasse.

Aufgrund des schlechten Baugrunds wurde auf eine Pfahlgründung mit vorgefertigten, quadratischen Pfählen unter den leichten Betonplatten der Fahrradbahnunterkonstruktion zurückgegriffen. Die größeren Lasten der Hauptkonstruktion werden über im Durchmesser 450 – 600 mm messende CFA-Pfähle in die tiefer liegenden Thanet-Sande abtragen. Die rund 900 Pfähle wurden bis zu 29 m tief in den Grund getrieben.

 

Konstruktives Zusammenspiel

Während des Wettbewerbs wurde die Entscheidung getroffen, den ringförmigen Fachwerkträger mit der darunterliegenden Schale zu verbinden. Dieser Träger ist das Schlüsselelement von dem aus – ähnlich einem Tennisschläger – die Stahlseile des Netzes gespanntsind. Vier Systeme wirken den Zugkräften der Stahlseile entgegen:

A. der ringförmige Fachwerkträger an der Dachaußenkante, der sowohl Zug als auch Biegungskräfte aufnimmt,

B. die horizontalen und diagonalen Verstrebungen, die Druckkräfte innerhalb der gekrümmten oberen Schale absorbieren,

C. die auf Biegung beanspruchten, auskragenden Hauptfachwerk­träger der Stadionschale, die die Kräfte auf die Stützpfeiler übertragen, die selbst durch die auf Druck beanspruchte Betonplatte der Unterkonstruktion ausgesteift werden,

D. die durchlaufende, ringförmige Betonscheibe der Erschließungsplattform, die Druckkräfte aufnimmt.

 

Nachhaltiger Entwurf

Alle Planungsansätze richteten sich von Beginn an auch auf die Nachnutzung bzw. Langzeitnutzung des Gebäudes, da die Olympischen und Paralympischen Spiele eine kurzzeitige Nutzung darstellen. Die Integration des Gebäudes und seiner ebenfalls von Hopkins Architects entworfenen Außenanlagen – mit BMX-Bahn, einer 1-Meile lange Radrennbahn, Mountain-Bike-Bahnen etc. – in den olympischen Park ist Ausdruck der Weitsichtigkeit der Planer.

Bei der Bewerbung Londons für die Spiele 2012 versprach das Organisationskomitee die nachhaltigsten Olympischen Spiele aller Zei­ten. Dementsprechend waren die Auflagen an die Gebäude hoch. Es ging darum, Lösungen für den Rückbau der Stadien aufzuzeigen, Primärressourcen zu schonen sowie Ressourcen wie Regenwasser oder Erdwärme für den Betrieb zu nutzen.

Um den CO2-Ausstoß bei der Produktion der Baukomponenten zu reduzieren, wird allgemein versucht den Ausstoß pro Tonne Material zu vermindern. Das Velodrome-Team hingegen sah vor, die Gesamtmenge der verwendeten Materialien durch eine leichte Tragkonstruktion und den Einsatz der richtigen Materialien zu vermindern.

Besonderes Augenmerk wurde auf ein Dachlichtsystem gelegt, das eine ausreichende, ganzjährige Grundbelichtung mit Tageslicht gewährleistet. Entwickelt wurde ein Spezialglas, das ein diffuses Basislicht erzeugt und eine direkte Sonneneinstrahlung verhindert. Energiesparendes Kunstlicht wird über ein zentrales Kontrollsystem geregelt und sorgt bei Großveranstaltungen für zusätzliche Beleuchtung. Die Herausforderung bestand darin, trotz der großen Glasflächen im Dach eine Überhitzung bzw. Auskühlung des Gebäudes zu verhindern. Die Gebäudehülle ist gut gedämmt und wird in den Übergangs­saisonen und im Sommer natürlich belüftet. Erdwärme wird für die notwendige zusätzliche Kühlung während der heißen Jahreszeiten genutzt. Das Regenwasser wird gesammelt und in einem unterirdischen Tank gespeichert. Nach der Aufbereitung wird es für die Toiletten und zu Reinigungszwecken verwendet.

Das Velodrome kann als ein konstruktives und energeti­sches Hochleistungsstadion bezeichnet werden. Dass es ganz nebenbei mit seiner Holzverschalung auch noch ästhetisch ansprechend in der Landschaft sitzt ist ein Beweis, dass nachhaltiges Bauen nicht unbedingt zu Hightech-Architektur führen muss. Michael Koller, Den Haag

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