Betondach mit Tragkraft
Antivilla, Krampnitz bei Potsdam

In der Antivilla von Brandlhuber+ Emde, Burlon wurde ein altes Dach durch ein WU-Betondach ersetzt, welches ermöglichte, dass in die bestehenden Außenwände große Panoramafenster geschlagen werden konnten. Das sonst sehr unauffällige Dach zeigt sich mit einem weit auskragenden Wasserspeier an der Süd-West-Seite des Gebäudes. Getragen wird die Dachscheibe durch einen neuen Betonkern im Zentrum des Bestandsgebäudes, der auch im Energiekonzept der Architekten eine wesentliche Rolle spielt.

Sie hat schon etwas sehr Kraftvolles, die Antivilla in Krampnitz bei Potsdam. „Brutal“ sagen manche Kritiker. „Narrativ und nachhaltig“ sagt Arno Brandlhuber, der als Bauherr und Architekt gemeinsam mit Markus Emde und Thomas Burlon die ehemalige Trikotagenfabrik in Brandenburg 2015 zu einem Atelier- und Wohnhaus umgebaut hat. Mit narrativ meint Brandlhuber, dass jedes Gebäude etwas über die Vergangenheit zu erzählen hat, was es zu erhalten gilt, unabhängig davon, ob wir es optisch ansprechend finden oder nicht. „Wir müssen uns von eingeübten ästhetischen Bildern lösen, um auch radikalere Denkansätze verfolgen zu können, die den Fokus auf die Nutzung setzen“, so der Architekt. Die Vorsilbe „Anti“ soll ausdrücken, dass sich die Villa nicht einreihen lässt in die typischerweise mit Potsdam verbundenen Luxusvillen – was bei 500 m² Gesamtfläche mit direktem Seezugang nicht verwundern würde. Aber die Antivilla möchte nicht protzen. Die große Fläche war durch den Bestand gegeben und konnte genutzt werden. Diese (Be)nutzung des Bestands spart zudem Energie und Kosten für Abriss und Neubau und erklärt einen wichtigen Teil der Nachhaltigkeit des Gebäudes.

Bis zur Wende hatte hier der VEB-Betrieb Obertrikotagen Ernst Lück seine Näherei mit Lagerhalle. Nach der Schließung wurde das Grundstück zum Spekulationsobjekt. Schließlich kaufte Architekt Brandlhuber die ehemalige Fabrik und beschloss, statt drei genehmigungsfähiger Einfamilienhäuser den Bestand zu erhalten und diesen kostengünstig herzurichten.

Neues Dach mit großer Wirkung

Der größte notwendige Eingriff war der Abriss des flach geneigten Satteldaches aus Asbest-Wellplatten, das nicht zu erhalten war. Gemeinsam mit dem Ingenieurbüro Pichler fanden Brandlhuber+ Emde, Burlon eine schlüssige neue Lösung: ein Flachdach aus WU-Beton, das auf einem ebenfalls neuen Betonkern in der Gebäudemitte liegt. Diese Konstruktion ermöglichte es, an den Nord- und Südfassaden, die sich zum See und zum Wald orientieren, die vorhandenen Fenster deutlich zu vergrößern. Bis zu 5 m große Öffnungen waren auf diese Weise machbar. „An diesem Punkt wollte ich nicht im klassischen Sinn am Reißbrett entwerfen. Ich stellte mir einen wilderen und unkontrollierteren Prozess vor“, erzählt Architekt Brandlhuber. Und so lud er Freunde und Bekannte ein, um bei Gulaschkanone und Bier gemeinsam mit dem Vorschlaghammer die vorhandenen Fensteröffnungen zu vergrößern. Das, was heute also brutal und herausgerissen wirken mag, hat einen sehr positiven Hintergrund: Das gemeinsame Gestalten und Aneignen des Gebäudes.

Das neue Dach, das diese Vorgehensweise möglich machte, ist über die gesamte Fläche um 2° geneigt und wird über einen weit ausladen­den Wasserspeier an der Süd-West-Ecke des Gebäudes entwässert. Das Regenwasser läuft also nicht über Regenrinnen und Fallrohre in die Kanalisation, sondern ergießt sich aus etwa 8 m Höhe und versickert in einer kleinen, nicht versiegelten Fläche, 2,5 m vor dem Haus.

Das große Beton-Flachdach, das konstruktiv am Rand als Unterzug ausgebildet ist, lagert schubweich auf den Bestandswänden, um mögliche Ausdehnungen auffangen zu können. Das Prinzip schubweicher Verformungslager ist im Brückenbau gängige Praxis und konnte sehr gut auf das Objekt übertragen werden.

Während es sich bei den Bestandsaußenwänden nicht um Beton, sondern um Mauerwerk mit einem typischen geschlämmten DDR-Rauputz handelt, dominieren den minimalistisch gestalteten Innenraum neben Estrichboden, verputzten Innenwänden und der Verspachtelung der Dachunterseite der rohe Beton des Kerns und der dazugehörigen Treppe zum Dach. „Mich fasziniert an Beton, dass er so amorph ist, nicht richtungsgebunden. Und dass er alle möglichen Formen und Funktionen bis hin zur Arbeitsplatte einnehmen kann“, erläutert Brandlhuber. In der Antivilla handelt es sich aber nicht um hochwertige Sichtbetonoptik mit ausgeklügeltem Schalungsmuster, sondern um ordentlich ausgeführte Handwerkerleistung zu einem bezahlbaren Preis.

Nachhaltig durch thermische Zonierung

Neben der ungewöhnlichen Optik gibt es in der Antivilla auch ein ungewöhnliches Energiekonzept: Statt einer hochgedämmten Hülle, innerhalb derer alle Räume gleichmäßig auf 20 ° C gehalten werden, setzt Brandlhuber auf thermische Zonierung. Im Winter reduziert sich die Wohnfläche dann auf 70 m², die durch den zentralen Kamin- und Saunaofen beheizt werden können. Abgetrennt wird diese Kernzone durch einen engmaschigen Vorhang, der verhindert, dass sich die aufgewärmte Luft mit der kühleren Luft des Bereichs zwischen Vorhang und Außenwand vermischt. In dieser Zwischenzone herrschen dann Temperaturen, die mit denen in einem Wintergarten vergleichbar sind. Der Ansatz hinterfragt also auch Ansprüche und Gewohnheiten der Bewohner: Muss in jedem Raum im Haus T-Shirt-Temperatur herrschen? Kann sich das Raumangebot nicht wie in alten Bauernhäusern zur kalten Jahreszeit verkleinern und im Sommer wieder vergrößern?

Ehrlicherweise muss man sagen, dass sich das Konzept in letzter Konsequenz so nicht durchführen ließ, da die vorhandenen Rechenmodelle des Wärmenachweises bereits an dem Vorhangstoff scheiterten. Um als Dämmmaterial in die Berechnung einfließen zu können, muss ein Material eine Stärke von 2 cm oder mehr aufweisen. Ein Vorhangstoff findet in der DIN keine Berücksichtigung. So wurde schließlich doch eine Fußbodenheizung eingebaut, die über eine Erdwärmepumpe versorgt wird. Die Antivilla erfüllt so auch rechnerisch die Anforderungen der EnEV. Funktioniert hätte die Idee aber auch ohne die Fußbodenheizung, weiß Brandlhuber aus seinen Erfahrungen im Haus.

Größte Herausforderung: Akzeptanz der Nachbarschaft

Die größte Aufgabe war allerdings weniger technischer als gesellschaftlicher Natur. Die neuen Besitzer aus dem Westen waren im Ort zunächst nicht unbedingt mit offenen Armen empfangen worden. Und auch jetzt betrachten viele Anwohner die gewählte Architektur mit gewissem Unverständnis. Eine grundsätzliche Akzeptanz ist aber da.

„Das war nicht immer so und für mich die größte Herausforderung des Projektes“, so Brandlhuber. „Die wichtigste Hürde war genommen, nachdem wir in der Antivilla öffentlich Volker Koepps Dokumentarfilm „Mädchen in Wittstock“ über ehemalige DDR-Arbeiterinnen aus dem Mutterwerk der hiesigen Fabrik, und ihren Werdegang nach der Wende gezeigt haben. Darin haben sich sehr viele der Anwohnerinnen wiedergefunden. Wir haben gezeigt, dass wir die Geschichte sehen und uns im Klaren sind, dass es nicht gut gelaufen ist.“

Kreative Prozesse

Arno Brandlhuber ist dafür bekannt, dass er sich als politisch denkender Architekt einmischt. Nach seiner Auffassung kann es sich – bei aller Wichtigkeit vieler Vorgaben, Baurichtlinien und -gesetze – lohnen, diese im Einzelfall in Frage zu stellen, um den Fächer auch kostengünstiger Maßnahmen möglichst weit öffnen zu können.

Arno Brandlhuber setzt sich auseinander mit dem, was der Bestand mitbringt und nutzt, was ein Gebäude „bereits kann“. Die Antivilla ist von außen kein Schönheitsidol, zeigt aber gerade im Innenraum, welche Raumqualitäten dennoch aus ihr herauszuholen waren. Und sie hat einen unglaublichen Aufforderungscharakter! Nicht umsonst wird der Ort für kreative Schaffensprozesse genutzt. So finden hier beispielsweise Symposien wie die Krampnitz Tapes statt. Im Erdgeschoss hat der Künstler Björn Dahlem sein Atelier eingerichtet. Im Garten steht zudem ein kleines Gästehaus, das 2012 von Studierenden der Hochschule Regensburg in Anlehnung an die Arbeiten der Künstlerin Rachel Whiteread vor Ort aus Beton abgegossen wurde. Und so wie der Büroname Brandlhuber+ Emde, Burlon signalisiert, dass das Büro offen ist für neue Kooperationen, ist auch die Antivilla offen für Veränderungen, sofern die Nutzer dies für notwendig erachten. Nina Greve, Lübeck

Baudaten
Objekt: Antivilla
Standort: Krampnitz bei Potsdam
Typologie: Umnutzung zu Mischnutzung als Wohn- und Ateliergebäude
Bauherr: Arno Brandlhuber
Nutzer: diverse
Architekt: Brandlhuber+ Emde, Burlon, Berlin, www.brandlhuber.com
Mitarbeiter: Elsa Beniada, Peter Behrbohm, Klara Bindl, Romina Falk, Victoria Hlubek, Tobias Hönig, Cornelia Müller, Markus Rampl, Paul Reinhardt, Jacob Steinfelder, Caspar Viereckl
Bauleitung: Thomas Burlon
Generalunternehmer: Glock & Co Kirchmöser Bau GmbH
Bauzeit: Februar 2012 – Oktober 2014
Fachplaner
Tragwerksplaner: Pichler Ingenieure, Berlin, www.pichleringenieure.com
Projektdaten
Grundstücksgröße: 1 466 m²
Grundflächenzahl: 0,2
Geschossflächenzahl: 0,5
Nutzfläche gesamt: 445 m²
Hauptnutzfläche: 417 m²
Nebennutzfläche: 28 m²
Funktionsfläche: 417 m²
Brutto-Grundfläche: 765 m²
Brutto-Rauminhalt: 2 365 m³
Baukosten
KG 200 (brutto): 49 000 €
KG 300 (brutto): 436 000 €
KG 400 (brutto): 130 000 €
KG 500 (brutto): 26 000 €
KG 600 (brutto): 13 000 €
Gesamt brutto: 654 000 €
Gesamt netto: 549 000 €
Hauptnutzfläche: 1 233 €/m²
Brutto-Rauminhalt: 232 €/m³
Energiebedarf
Primärenergiebedarf: 39,3 kWh/m²a nach EnEV 2009
Endenergiebedarf: 6,8 kWh/m²a nach EnEV 2009
Energiekonzept
Abdeckung Grundbedarf durch Geo­thermie mittels Fußbodenheizung, Spitzenlasten werden durch Kamin abgedeckt. Warmwasseraufbereitung erfolgt dezentral über Durchlauferhitzer.
Nutzfläche kann im Winter auf ca. 75 m² verkleinert werden – Vorhang schafft Klimazone
Gebäudehülle
U-Wert Außenwand = ⇥0,861 W/(m²K)
U-Wert Bodenplatte = ⇥0,255 W/(m²K)
U-Wert Dach = ⇥0,165 W/(m²K)
Uw-Wert Fenster = ⇥1,300 W/(m²K)
Hersteller
Kalkschlemme an Fassade: Solubel Vertriebs GmbH, www.solubel.de
Innendämmung Decke: Xella Deutschland GmbH, www.multipor.de
Heizung: Zewotherm GmbH,
www.zewotherm.de, Vaillant Deutschland GmbH & Co. KG, www.vaillant.de
Lüftungstechnik:
LIMOT GmbH & Co. KG, www.limot.de

1 Atelier 1

2 Atelier 2

3 Garage

4 Küche/Essen

5 Wohnen

6 Sauna

7 Schlafen

430⇥1–6
x

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