Auf der grünen Wiese
Kinderkrippe in Sarreguemines/FR

Die Betreuung von Kleinkindern ist in Frankreich ein wichtiges Thema. In kaum einem anderen europäischen Land werden Kinder bereits mit drei oder vier Mona­-ten ganztägig und meist fünf  Tage pro Woche den professionell geschulten KinderbetreuerInnen anvertraut.
Dementsprechend ist es verständlich, dass der guten Planung von Kinderkrippen und Kindergärten große Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Lage

Die Kinderkrippe von Sarreguemines, einer Stadt in unmittelbarer Nachbarschaft zu Deutschland im Département Moselle in Lothringen, liegt am Stadtrand, in einer undefinierten Umgebung von Industriehallen und Depots. Mitten auf einer leicht abfallenden, grünen Wiese gelegen, gab es für die Architekten keine örtlichen Ankerpunkte, keine topografischen oder visuellen Zwänge. Sie entwickelten das Ge­bäude systematisch auf der Basis der Raumanforderungen von innen
heraus. Was auf den ersten Blick wie ein Formenspiel aussieht, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung des Grundrisses als ein klar durchdachtes und sehr funktionell entworfenes, ebenerdiges Gebäude. Schritt für Schritt entwickelten Paul le Quernec und Michel Grasso das Funktions- und Raumdiagramm zu einem zentrisch organisierten, räumlichen Gebilde.

Die Jury der fünf eingereichten Projekte ließ sich offenbar vom Rendering des Entwurfs irreleiten, da er anfänglich als eine nicht ernstzunehmende Einsendung abgetan wurde. Erst eine mündliche Präsentation, ein an sich unüblicher Vorgang bei derartigen, anonymen Wettbewerben in Frankreich, ermöglichte es den Architekten die Ernsthaftigkeit ihres Projektes darzustellen und die Jury von der Funktionalität des Gebäudes zu überzeugen.

Zentrum

Die radiale Anordnung der verschiedenen Zonen entlang 13 speichenähnlichen Achsen führte zu einem kuchenartigen Grundriss, in dem die Gruppenräume für die unterschiedlichen Altersgruppen, die Büros, die Küche und die Aktivitätsräume jeweils ein Kuchenstück bilden. Je nach Größe der geforderten Flächen für die einzelnen Zonen sind die Kreissegmente mehr oder weniger tief ausgefallen. Auf diese Weise entstand eine blütenartige Gebäudeform mit größeren und kleineren Blättern. Vom Wunsch nach einer größtmöglichen Transparenz und vor allem Übersichtlichkeit getrieben, entwickelten die Architekten im Herzen des Gebäudes, dem Schnittpunkt der Achsen,
einen überdachten Patio. Damit verinnerlichten sie den für die Kinderkrippen üblichen externen, straßenseitigen und überdachten Vorplatz und kreierten einen wettergeschützten Gemeinschaftsbereich,
einen zentralen Platz. Um diesen, mit einem in Blau gefärbten Betonboden gestalteten Spielplatz, verläuft der kreisförmig angelegte Gang, von dem aus alle Haupträume zugänglich sind. Um die Anschlusspunkte der an sich spitzwinkligen Schnittpunkte zwischen den Mauern auf den Achsen und den an sie angrenzenden Zwischenwänden zu vereinfachen, entwickelten die Architekten ein System von abgerundeten Ecken, die sich schlüssig und funktionell in das Gesamtkonzept des Gebäudes einordnen.

Am Kind gemessen

So wie der Patio ist die gesamte Organisation der Krippe introvertiert. Durch die amöbenartig geformte Mauer mit einer Mindesthöhe von 1,60 m, die die Architekten ganz bewusst überzeichneten und die die sonst üblichen Begrenzungszäune ersetzt, wurde ein visueller, aber auch akustischer Schutz geschaffen, wie man ihn von Klosteranlagen kennt. Der Raum zwischen dem eigentlichen Gebäude und der Grund­stücksmauer wird damit zu einem geschützten Garten mit wertvollen Spielflächen für die Kinder. In ihrem Rendering verschwindet das flache Gebäude hinter einem Wald aus Bambus, das offenbar hinter der Begrenzungsmauer hervorwächst. Der Bambus dient nicht als Eyecatcher, er will auch nicht das Gebäude als besonders grünens Gebäude darstellen, sondern ist eingesetzt um eine optische und gefühlsmäßige Verkleinerung der Außenräume zu erreichen und diese dem reduzierten Maßstab der Kleinkinder anzupassen. Die trichterförmigen „Boxen“, die die Türen und Fenster auf die Terrassen und in den Garten umrahmen, erfüllen hierbei eine ähnliche Funktion. Gleichzeitig haben sie einen Täuschungseffekt, weil sie die wahre Größe des Gebäudes nicht erkennen lassen. Die primäre Funktion dieser, an mediterrane Architektur erinnernden weißen und leicht überzeichneten Wände, ist das Einfangen des Sonnenlichts. Der Bambus hat im Sommer eine Sonnenschutzwirkung und verhindert das Überhitzen der Innenräume.

Das Ensemble besitzt keine Fassade im herkömmlichen Sinn eines Gebäudes. Sie kann in Wirklichkeit durch die runde Form immer nur in Abschnitten und nur im Garten wahrgenommen werden.

Die Anpassung der Räume an die Größe der Kinder spiegelt sich auch im Inneren auf vielfältige Weise wieder. Nicht nur, dass die Möbel und Einrichtungsgegenstände an die Größe der Kinder angepasst wurden, die Architekten spielten vor allem mit den Deckenhöhen, die sie bis zu 2,10 m herunterzogen. Diese an sich zu geringe Höhe, wie man sie u. a. über der Rezeption findet, wird auf der Suche nach einem größtmöglichen Maß an natürlichem Licht immer wieder in runden Dachfenstern bis auf 4,50 m erhöht. So entstehen sehr dynamische und verspielte Räume. Die zahlreichen Rundun­gen der Wände und Decken wurden mittels schmalen, auf MDF-Trägern festgeschraubten Gipskartonplatten realisiert. Die Zwischenräume und Knicke wurden daraufhin verputzt, wodurch die unebenen Oberflächen entstehen, die die Räume allgemein charakterisieren. Hinter den sichtbaren, S-förmigen MDF-Trägern im Eingangs­bereich wurde die Decke mit Stoff überspannt, um die Akustik zu verbessern.

Herausforderung

Der Bau wurde mit lokalen Baufirmen realisiert, die, wie sich im Verlauf der Realisierung herausstellte, nicht genug Erfahrung mit der Umsetzung derartig komplexer Formen hatten. Die Baustelle gestaltete sich, wie Paul le Quernec betont, als äußerst schwierig und lang­wierig, wobei die größte Herausforderung darin bestand, sicherzustellen, dass alles so ausgeführt wird, wie es von den Architekten umschrieben war. Ein Teil der Verzögerung bei der Fertigstellung
ließ sich auf das hohe Maß an Handwerksarbeit zurückführen. Denn obwohl zum Beispiel die Einbaumöbel keine außergewöhnliche Komplexität aufweisen, verlangte die Ausarbeitung der abgerundeten Anschlussteile eine besondere Sorgfalt, an die die lokalen Firmen nicht gewöhnt waren. Die Verantwortung für das Überschreiten der Baukosten, das nicht Einhalten der vorgesehenen Bauzeit, etc. wurde auf das noch sehr junge und wenig erfahrene Architektenduo geschoben. Im Gegenzug fand das Gebäude nach seiner Inbetrieb­nahme größte Anerkennung bei den Benutzern, die sich mit seiner
Organisation, aber auch auf ästhetischem Niveau äußerst zufrieden zeigten.

Sichtweisen

Die Architektur des Bauwerks lässt zwei Interpretationen zu: Zum
einen kann die Gebäudeform als Resultat einer sehr funktionellen, streng geometrisch organisierten Architektur angesehen werden. Zum anderen kann sie auch als eine Metapher des Mutterleibs interpretiert werden. Auch mit dieser zweiten, völlig unrationalen Interpretation der Gebäudeform wurden die Architekten konfrontiert. Nach der Meinung von Paul le Quernec besteht der Reichtum und
die Faszination dieser Kinderkrippe darin, dass sie beide Interpreta­tionen zulässt.
Michael Koller, Den Haag

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