Ach, wir kommen so viel herum
BOLLES+WILSON, Münster/Westfalen



Zwar weisen die beiden Partner jede Handschrift von sich, sprechen lieber von Dialekt, doch ist B+W als Marke in der ganzen Welt bekannt. Was genau diese ausmacht ist schwer auf nur einen Nenner zu bringen, aber das wäre Julia B. Bolles-Wilson und ihrem Partner Peter L. Wilson auch viel zu wenig.

Münster in Westfalen ist nicht der Nabel der Architekturwelt. Doch abgesehen von der Frage, wo der denn nun auszumachen sei in der Welt und ob dieser Nabel nicht auch wandern könnte, möchte man die Frage nach dem Ort auch gleich wieder streichen; denn mit Blick nach Münster lässt sich feststellen, dass Architektur überall auf der Welt geschieht, eben auch dort. Die ehemalige Provinzialhaupt- und heutige Universitätsstadt hat sich allerdings in den letzten Jahren architektonisch entwickelt. Keine Donnerschläge mehr, wie das heute nur noch aber immerhin noch elegante Stadt­theater aus den Fünfziger Jahren, eher der ganz normale, am nationalen wie internationalen Baugeschehen orientierte Verwaltungs-, Shopping-, Kultur- und Wohnbau, der der trotz aller studentischer Energien gemächlich verharrenden Stadt einen gelinden Schwung nach vorne gab.

Das Selbstbewusstsein einer geschichtsreichen Stadt hat sich also – und man muss sagen endlich – in Richtung städtebaulicher Entwicklung aufgeweitet, Conrad Schlaun steht nicht mehr allein auf dem Sockel, auf dem eine Stadt ihre Baumeister präsentieren könnte. Neben ein paar auch jüngeren Büros kommt man schnell auf BOLLES+WILSON, die international längst etabliert sind, aber in ihrer Wahlheimat eher versteckt und fast unkommentiert ihre Projekte in der ganzen Welt akquirieren und realisieren. Woran das liegt?

Aus der Weltstadt London kamen die beiden 1987 nach Münster, hier hatten sie den Wettbewerb zur neuen Stadtbücherei gewonnen. Julia Bolles-Wilson kehrte damit in ihre Heimat zurück. Seine Heimat, Australien, hat Peter Wilson Anfang der Siebziger wohl endgültig verlassen, er wollte ursprünglich Kunst studieren, hat sich aber für Architektur in Melbourne entschieden und ist am Ende an der AA in London gelandet. Spätestens heute fühlt er sich als Europäer, und das mit zunehmend gutem Gefühl.


Von der AA London in die Provinz nach Münster

Die Architectural Association School of Architecture in London war der gemeinsame Ort ihres ersten Zusammenarbeitens und der ihres Absprungs auf den Kontinent. An der AA lehrten sie zusammen mit all denen, die damals Rang und Namen hatten in der Avantgarde der Architektur(Theorie), und mit den meisten trafen sie sich zwanglos zu allen möglichen und unmöglichen Anlässen. Zaha (Hadid), Peter Eisenman und Rem (Koolhaas), Toyo Ito, Nigel Coates oder David (Chipperfield) waren Kollegen, mit denen über Architektur theoretisiert und in den Units gelehrt wurde. Die ersten der internationalen Liga bauten nicht, sie forschten. Hielten Vorträge, publizierten in den Fachzeitschriften Texte. Und die Zeichner unter den Schreibern (so Peter Wilson) platzierten ihre Statements auf den Titelseiten. Für B+W gab es in dieser vom Denken, auch vom Spielen mit der Theorie dominierten Zeit erste kleine Fingerüberungen im realen Bauen, Hausprojekte, Möbelstudien und kleinere städtebauliche Wettbewerbe. Schließlich der oben schon Genannte zur damals vielbeachteten und für B+W wichtigen Stadtbücherei (Wettbewerb 1. Stufe 1985, 2. Stufe 1987, Erster Preis, Fertigstellung 1993). „Den Wettbewerb für die Bücherei in Münster haben wir noch von London aus gemacht, nach dessen Gewinn haben wir uns entschieden, mit Sack und Pack und Mann und Maus und kleinen Kindern nach Münster zu ziehen“, so Julia Bolles-Wilson im Gespräch. „Der Neubau der Stadtbücherei war für uns eine andere Größenordnung, eine riesige Chance.“ Für Peter Wilson hatte der Wegzug aus London auch etwas mit dem Lebensabschnitt zu tun: „Wir waren so um die Ende 30, wir hatten unsere aktive Phase in der Metropole erlebt und nun eine ganz andere Perspektive.“ Nämlich die von der anderen Seite des Ufers aus, auf welchem die Theorie in die Praxis umgesetzt werden muss. In London „von dieser eher theoretisch dominierten Welt zum Bauen zu kommen“, so Peter Wilson, „ist von der AA aus unmöglich. Unser Sprung aus England war, rückblickend gesehen, nicht nur absolut wichtig, er war beinahe so etwas wie eine Erlösung. Und: Die Erfahrung, dass etwas Gebautes auch eine soziale Rolle und nicht bloß eine theoretische spielt war ungemein wichtig für uns, vielleicht eine Art von Schlüsselerlebnis?!“

Sie gingen nach Münster, etablierten hier ihr Büro, damals in einem der in Münster eher seltenen Hinterhöfe, und bauten ihr Team auf. Zeitgleich kamen Projekte in Japan, die Peter Wilson noch von London aus steuerte: „Wir machten die von London aus, weil die deutsche Stadt Münster in Japan schlicht nicht existent war.“ Hier entstanden unter anderem ein paar Möbelprototypen, der Ausstellungspavillon der Stadt Otzu auf der Gartenbau-Weltausstellung in Osaka 1990, oder das Suzuki-Haus in Tokyo (1993), das mit seinen technoiden Bezügen auf die Bilderwelten der Diderot’schen Encyclopédie noch immer Theorieanspruch und Konzeptbehauptung der so viele Architekten prägen­den AA-Schule in sich trägt.

Die rationale und die irrationale Seite

Auf die Frage, wie sich die beiden Partner und Eheleute ihre Arbeit im Alltag teilen, kommt nicht der beinahe schon erwartete Hinweis auf flache Hierarchien, Teamarbeit oder kontinuierliche Entwicklungsprozesse, das „wir bearbeiten die Projekte gemeinsam“ schlüsselt sich im gleichen Satz schon auf in „Peter und ich“. Wobei, wie Julia Bolles-Wilson gleich hinterher schiebt, ist „Peter derjenige, der als hervorragender Zeichner im Entwurf die Nase vorne hat.“ Hier wird dann auch gleich ein Punkt berührt, der für die Arbeit von B+W zentral ist: die Handzeichnung. „Wir schauen zuerst intensiv auf das Raumprogramm“, so Peter Wilson, „dann mache ich meine ersten Skizzen. Und Julia ruft gleich ‚Moment mal! Wir müssen doch noch dieses und das diskutieren’ …“ Beide sehen sich selbst im Entwurfsprozess als mit einander agierende Gegenpole: Sie: analytisch, kritisch bewertend, er: intuitiv und meist schon von Anfang an elaboriert, bis in die Farben, Materialien, die Wandstärken. „Wenn die ersten Skizzen auf dem Papier sind, bin ich von ihrer Wahrhaftigkeit überzeugt, davon, dass das Bild eine Bedeutung erlangt hat, die nicht korrigierbar ist im herkömmlichen Sinne“, so der Architekt. Das ergibt eine Handschrift, die vielleicht im Detail erkennbar wird, typologisch allerdings völlig frei ist von Richtungen, von Stilen. Statt von Handschrift sprechen sie lieber von wiederkehrenden Strategien: „Wir schauen hier sehr genau auf Verflechtungen und Vernetzungen – früher hätte man dazu vielleicht ,Kontext’ gesagt, aber das ist wohl schon out“, so Julia Bolles-Wilson, die das theoretische Entwerfen auch als Professorin an der msa | münster school of architecture unterrichtet, an welcher sie zudem Dekanin ist.


Projekte

Achtzig bis Neunzig Prozent ihrer Aufträge erarbeitet sich das Büro, das in einem Neubau am Kultur-In-Standort Hafen untergebracht ist (Architekten: B+W), über Wettbewerbe, mehr und mehr werden sie zu diesen auch eingeladen. Etwa ein Fünftel davon gewinnen und bearbeiten sie in der schon geschilderten Arbeitsteilung, die sich anschaulich widerspiegelt auch in der Arbeitsplatzsituation im privaten Studio hoch oben in ihrem Bürobau: hier großer Schreibtisch zwischen Büchern und Akten, dort Atelierstimmung mit unzähligen Miniaturskulpturen und allem erdenklichen Zeichenwerkzeug.

Sie sprechen nicht gerne von Masterplanungen, bezeichnen die eher umfassenden, auf Quartiere oder größere Siedlungsräume bezogenen Planungen lieber als „Entwicklungen“, oder „logistische Ausarbeitungen“. Doch insbesondere die großräumlichen Arbeiten haben zugenommen; was nicht heißt, es gäbe die anderen, auf einen ganz speziellen Ort bezogenen Projekte nun gar nicht mehr. Bibliotheken beispielsweise, die sich wie ein roter Faden durch das Werk ziehen, das, würde es Werknummern ausweisen, wohl bei etwa 220 angekommen ist. Nach der Stadtbibliothek in Münster kamen ein Kindergarten in Frankfurt-Griesheim (1992), das Yellow Möbellager und Vertrieb (1992) – dem weitere Bauten für diesen Bauherren bis heute folgten –, ein Technologiehof (1993), das WLV Bürogebäude Warendorfer Straße (1995), alle in Münster. Dann zahlreiche Projekte in den Niederlanden wie in Rotterdam und Hengelo, die wesentlich zum Bekanntwerden von B+W beitrugen. Dann die Projekte in der Schweiz, in Albanien, dem Libanon oder Italien, aktuell und kurz vor Baubeginn wiederum eine Bibliothek – die BEIC - Europäische Bibliothek für Information und Kultur in Mailand. Sie alle gehen auf Zeichnungen zurück und wurden über Modelle bis ins digitale Rendering entwickelt, vertieft.

Das Architektenpaar nimmt seine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft und ganz konkret dem öffentlichen Raum ernst. Die beiden gehen dafür auch so weit, „den Bauherren unterschwellig dazu zu zwingen, sich dieser Verantwortung zu stellen.“ (Julia Bolles-Wilson) Peter Wilson konkretisiert diese Haltung dahin gehend, dass sie ihre Projekte nach den Kriterien hermetisch/durch­lässig in ein umfassenderes städtebauliches, stadtsoziologisches Gleichgewicht bringen. Dabei verstehen sie ihre Bauten nicht als dem Stadtraum entzogene Solitäre, sie verflechten sie möglichst breit und möglichst feingesponnen mit ihrer Umgebung.

Die Arbeiten im Ausland, in Albanien beispielsweise, sind ihnen ein notwendiger Perspektivwechsel, von welchem aus das in Normen geronnene Bauen mit klarerem Blick angeschaut werden kann: „Wir treffen hier in Deutschland Entscheidungen, die für uns völlig normal, aus einer anderen Blickrichtung zumindest fragwürdig sind.“ (Peter Wilson) Neue Blickrichtungen ergeben sich eher aus den kleinen Projekten, in ihrer aktuellen Büromonografie (A Handful of Productive Paradigms, Eigenverlag) auch als „Elsewhere Projects“ kategorisiert werden. Die hier gesammelten Erfahrungen fließen dann wieder zurück in die größeren Projekte. Bei dem Projekt Falkenried in Hamburg haben sie eine kleine Stadt in der größeren konzipiert, ohne zuvor Tabula Rasa zu machen. Im Gegenteil – und das gilt für die meisten ihrer Projekte –, haben sie darauf geachtet, „eine gewisse Weichheit in das Projekt hineinzubringen.“

Zufriedenheit, Identifikation mit der Arbeit und ihrem Ergebnis ist den beiden immer noch das Wichtigste, wichtiger als vordergrün­diges Prestige oder schiere Größe. Längst haben sie sich „eine gewisse Expertise“ im „Off stage“-Sein erarbeitet. Nicht zuletzt durch die Präsentation ihrer Projekte über Peter Wilsons Handzeichnungen, präzise, atmosphärische Bilder von konkreten Orten in der Zukunft. Diese Originale mit ihrem hohen Maß an Spontaneität kommen bei den Bauherren gut an, das Original der Zeichnung nimmt das Original des später Gebauten in kongenialer Weise vorweg; deutet es an, lebt es bereits. „Ich weiß, dass wir beide noch mit dem Stift denken, wir sind vielleicht die letzten, die das machen …“ so der Architekt kurz vor Schluss des Gesprächs; „… die letzte Generation, meine ich!“

Sie werden in Münster bleiben, von hier die Wettbewerbe in aller Welt bearbeiten
und Pro­jekte entwickeln und steuern. Und sie werden das machen, was sie schon immer taten: fortgehen und zurück kommen, reisen eben.

Peter Wilson: „Ach, wir kommen so viel herum, Italien oder Albanien, Niederlande etc. Wir haben genug Möglichkeiten …“ Die haben sie sich hart erarbeitet, in rund drei Jahrzehnten kreativen Schaffens in der Provinz für alle Orte auf der Welt. Be. K.

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