Tanz der Glaslamellen

AGC Headquarter, Louvain la Neuve/BE

Das AGC ist ein schönes Beispiel für eine äußerst gelungene Architektur eines flexiblen Bürogebäudes für ein Glasunternehmen. Hier wurde mit der Verwendung der besonders durchdachten Glaslamellen die physikalischen Eigenschaften von Glas bis ins Detail genutzt.

⇥DBZ Heftpate Mick Eekhout

Wenn sich einer der führenden Flachglas-Produzenten eine neue Hauptniederlassung gönnt, ist davon auszugehen, dass das hauseigene Material als Schaumuster vielfache Anwendung findet. Die Architekten Philippe Samyn and  Partners treiben das Konzept auf die Spitze und verwenden es in logischer Konsequenz sogar beim Sonnenschutz.

Ein gemauertes Frühwerk Samyns, vor 30 Jahren errichtet und offenkundig von Louis Kahn inspiriert, liegt in unmittelbarer Nachbarschaft auf dem Weg zur Besichtigung des AGC Headquarters. „Mein letzter Bau dieser Art“, scherzt der promovierte Vollblutingenieur mit verschmitztem Lächeln. „Die Demontage einer gemörtelten Steinwand ist ja quasi unmöglich, vielmehr muss diese in Gänze zerstört werden. Aus Gründen der Nachhaltigkeit ist deren Verwendung aus ökologischer wie ökonomischer Sicht geradezu irrational“. Stattdessen plant der architektonische Autodidakt vorzugsweise in Holz, Stahl und Glas. So wurden beim aktuellen Projekt rund 13 000 m² Glas auf der sprichwörtlich grünen Wiese verbaut; die Produktpalette reicht dabei von Flachglas über Verbundglas, verziert und beschichtet.

Zur maximalen Lichtausbeute ist der zweigeschossige Bau um 15° gegen den Uhrzeigersinn aus der Nord-Süd-Achse gedreht. Sein quadratischer Grundriss hat eine Kantenlänge von 83 m. Auf Pfeilern gelagert überdacht der flache Quader ein Areal für über 250 PKW-Stellplätze. Die runden, mit Beton gefüllten Stahlstützen haben einen Durchmesser von schlanken 30 cm und sind über ein Raster im Abstand von 8,10 m verteilt. Südseitig erschlossen beginnt die Begehung in Begleitung zweier Mitarbeiter der AGC-Objektbetreuung.

Mit Sicherheitskarten ausgestattet führt eine Treppe hinter der Schleuse ins mächtige Atrium, das sich mit 12 m Breite und rund 9,5 m Höhe durch das gesamte Haus erstreckt. Es gliedert den Baukörper in etwa im Verhältnis des Goldenen Schnitts und funktioniert gleichermaßen als Verteilerebene, Kommunikationszone oder Veranstaltungsort. Während sich linkerhand diverse Konferenzräume und die Firmenkantine mit drei kleinen Patios befinden, schließt sich rechtsseitig ein weiter, offener Bereich an, durchbrochen von drei großen, den Patios gegenüberliegenden Innenhöfen, so dass eine Kammstruktur mit vier Büroflügeln entsteht. Ihre Tiefe von jeweils 11 m garantiert das ganze Jahr über eine natürliche Belichtung.

Rund 600 Personen wirken hier auf beinahe 11 000 m² in flexibler Organisation – zusammengelegt aus vormals sechs eigenen Sparten“, erläutert Emmanuel Daidone vom AGC Facility-Management. Von annähernd jeder Position ist der Blick nach draußen möglich. Das Licht vervielfältigende Spiegelbänder und eine durchgängig helle Möblierung, die mit einem Teppich in Reingrau kontrastiert, bilden eine angenehme Atmosphäre. Erstaunlich, dass trotz verkehrsnaher Anbindung überall absolute Ruhe herrscht.

Vorhangfassade

Interessanterweise hatte Philippe Samyn eine ähnliche Idee bereits 1998 beim Wettbewerb für die Bestandsmodernisierung eines großen Mineralöl- und Energiekonzerns in Rom, die jedoch nicht zur Ausführung kam. In Louvain-la-Neuve, 30 km südlich von Brüssel, konnte seine Vision 2014 beim AGC Headquarter modifiziert umgesetzt werden – eine fruchtbare Beziehung zwischen beiden Parteien besteht bereits seit 2006. Weil das Gebäude vollverglast ist, haben es die Planer in eine zweite Schale mit beweglichen Glaslamellen aus Verbundglasscheiben gehüllt. Tatsächlich erfolgte das endgültige Design der zweiten Haut aber erst, als die Primärstruktur bereits im Bau war. Mit dem Bewusstsein, dass die äußerst fragile Konstruktion samt beweglicher Elemente nur minimale Toleranzen erlaubt, stellte sich die Frage nach der Befestigung am Bauwerk bei zeitgleich möglichst leichter Ausführung. Eine Fixierung an den betonierten Geschossdecken kam nicht in Frage, da diese bereits Kriechverhalten zeigten. So entschied man sich, die Lamellenfassade vom Dach abzuhängen. Nach Verankerung orthogonal miteinander verbundener Stahlträger an den vier Außenseiten hängt das zweite Fassadengerüst an Konsolen im Ras-ter von 1,35 m. Wuchtige Dachplatten dienen dabei als Gegengewicht. Da diese bei den sechs erwähnten Innenhöfen nicht zum Einsatz kommen konnten, werden die Lasten dort über eine Zugstange in die Betonplatte der unteren Etage geleitet. Bei den Patios mit zweigeschossiger Höhe sind zur Aufnahme stärkerer Winddrucklasten die Wartungsgitter zwischen den Fassaden verstärkt und gegen die nächstliegende Betonsäule versteift. Rein optisch trifft in den Höfen warmer Bambus auf kühle Technik. Unbedingt erwähnenswert ist außerdem die Ausführung sämtlicher Scheiben als eisenarmes Doppelglas, dessen von Grünstichen befreite Transparenz eine fantastische Durchsicht ermöglicht.

Permanent changierende Ansicht

Die Glaslamellen sind beidseitig mit parallelen, weißen Emaillestreifen bedruckt, wobei diese jeweils auf Außen- und Innenseite leicht überlappend gegeneinander versetzt sind, so dass Durchsicht nur bei Schräglage besteht, wie bei einer Jalousie, deren Lamellen gekippt sind. Lamellenstärke und Streifenbreite korrespondieren miteinander. „Das Herstellungsverfahren der Lamellen erforderte äußerste Präzision hinsichtlich Abmessung, Punkthalterung und Ausrichtung der Streifen beim Lackauftrag im Siebdruckverfahren, um direktes Sonnenlicht abzuhalten“, erklärt Bhadresh Parbhoo, IBP Manager bei AGC und als Kontaktarchitekt an der Entwicklung beteiligt. Bei Bearbeitung der Scheiben nach Brennvorgang bestünde zudem akute Bruchgefahr und Glasbruch gab es bis zum fertigen Produkt nach Aussage aller Beteiligten reichlich. Die 17,52 mm starken Lamellen an Nord- und Südfassade verlaufen horizontal und sind 290 mm breit bei einer Länge von 1,35 m – entsprechend ihres modularen Konstruktionsrasters. Jede horizontale Lamelle ist an ihren beiden Enden über eine Kipphalterung am von den Dachkonsolen abgehängten Flacheisen befestigt. Benachbarte Lamellen sind paarweise, also über die Länge von 2,70 m, miteinander verbunden. In der Mitte dieser Paare befindet sich eine über Aktuatoren gesteuerte Antriebsstange, die mittels Hebel an den Halterungen zehn übereinanderliegende Doppelpaare (ergo 40 Lamellen) betätigt. Losgelöst davon leiten die vier obersten Reihen pro Stockwerk das Licht dank waagerechter Ausrichtung über Deckenreflexion tief in den Raum. An Ost- und Westseite weisen die Lamellen wegen ihrer größeren Dimension eine Stärke von 25,52 mm auf und sind aufgrund des flachen Sonnenwinkels vertikal angeordnet. Die 327,5 mm breiten Elemente variieren in vier unterschiedlichen Längen. Die aufrechten Lamellen sind an ihren äußeren Enden über Kipphalterungen zwischen je zwei Quereisen befestigt, die wiederum mit den von den Dachkonsolen abgehängten Flacheisen verbunden sind. So passen immer vier von ihnen in ein 1,35 m breites Modul. Jede der vier Reihen wird durch 14 Aktuatoren über Antriebsstangen gesteuert, die jeweils 20 Lamellen (in demnach fünf Modulen) drehen. Mittels Sensoren und Computersoftware entscheidet ein motorisierter Mechanismus über die Ausrichtung der Lamellen. Während diese je nach Wetterlage rotieren, ändert sich das Antlitz des Bauwerks permanent. Manuell geschlossen wird die Fassade lediglich zu Reinigungszwecken. Horizontale Kräfte, die auf die Lamellen wirken, werden durch horizontal verspannte Stahlkabel mit diagonalen Traversen zu den Wartungsgittern und Dach­konsolen aufgenommen. Alle Fluchttreppen, die sich bei Bedarf über Gewichte nach unten schwenken lassen, sind übrigens in die Umgangsroste integriert – ein gewitzter Schachzug des belgischen Baukünstlers, der unterschiedliche Bauteile gern in mehrfacher Weise nutzt.

Ökologisch zertifiziert

Neben der ausgeklügelten Fassade machen die Verwendung lokaler, nachhaltiger Baustoffe, knapp 900 Photovoltaikplatten auf dem Flachdach, Baukernaktivierung, Geothermie zum Heizen und Kühlen, Regenwassergewinnung sowie Grauwasserbenutzung für die WCs das Objekt beinahe zu einem Nullenergiehaus und haben ihm ein “Exzellent“ als BREEAM Zertifikat eingebracht. Philippe Samyn tüftelt indes bereits weiter eifrig an seinem Verschattungssystem. Die neueste Variante besteht aus einem rechtwinklig gefalteten, hauchdünnen und perforierten Trapezblech aus Edelstahl mit auf der Hand liegenden Vorteilen: Es ist günstig, leicht, widerstandsfähig, luftdurchlässig, einfach zu reinigen, kann sich elastisch verformen ohne zu brechen und filtert keine Farben. Man darf also gespannt sein.

Baudaten

Objekt: AGC Headquarter
Standort: Louvain la Neuve/BE
Typologie: Bürogebäude
Bauher: AXA Belgien, Brüssel/BE
Generalunternehmer: Van Roey Vastgoed, Brüssel/BE,
www.vanroeyvastgoed.be
Architekt: Philippe Samyn and Partners, Brüssel/BE,
www.samynandpartners.com
Team: Karim Ammor, Mariuca Calin, Blandine Capelle, Alejandro Chichizola, Jan De Coninck, Alfonso Di Mascio, Sarah El Mann, Dikran Gundes, Denis Melotte, Elodie Noorbergen, Francesca Stroppa, Monika Studzinska, Gaofei Tan, Lien Vancoppenolle, Brecht Van Lerberghe, Emilie Willain
Entwurfspartner: Dr. Ir Philippe Samyn, Bernard van Damme, Brüssel/BE, www.wbarchitectures.be
Bauleitung: Ghislain André, Philippe Samyn and Partners, Brüssel/BE
Bauzeit: 2010 – 2014

Fachplaner

Tragwerk: Philippe Samyn and Partners mit Ingenieursbüro Meijer BVBA, Edegam/BE, www.meijer.be
TGA: Philippe Samyn and Partners mit FTI – Flow Transfer International SA, Uccle/BE, www.istema.be
Landschaftsarchitekt: Erik Dhont, Brüssel/BE,
www.erikdhont.com
und Nicolas Pauwels
Sicherheitskoordinator, BREEAM Gutachter: BOPRO NV et BREEAM assesor, Gent/BE, www.bopro.be; Stefanie Bernard, Stefaan Martel, Sabine Vandenmuisenberg

Projektdaten

Grundstücksgröße: 25 000 m²
Bürofläche: 12139 m²
Parken: 6152 m²
 

Hersteller

Glaslieferant: AGC Glass Europe SA/NV,

www.agc-glass.eu
Sonnenschutz: Colt International NV, www.coltinfo.be
Sichtschutz: Bipp Bipp SA, www.bipp-bipp.eu
Verglasung: Glaswerken van Heertum NV,
www.glaswerken-vanheertum.be
Air Condition: Energys Belgium SA,
www.energys-belux.eu
Rauchabzug: Brakel Aero NV, www.brakelaero.com

x

Thematisch passende Artikel:

Advertorial / Anzeige

Flachglas fürs Flachdach

Innovative Oberlichtlösung mit elegantem Flachglasdesign sorgt für maximierten Tageslichteinfall

Renaissance des flachen Daches Schlicht, geradlinig, klare Kanten – das Flachdach ist seit der klassischen Moderne nicht mehr aus der Architektur wegzudenken. Dieses kollektive Bild von moderner...

mehr
Ausgabe 06/2013

Photovoltaik in Glas eingebettet

SunEwat XL von AGC Interpane ist als Verbundglas mit eingebetteten mono- oder polykristallinen Photovoltaik-Zellen ein Glasbauteil, das bei Sonneneinstrahlung aktiv Strom produziert. Die extraklare...

mehr
Ausgabe 03/2014

Optische Täuschung

vetroLoom ist ein Verbundglas mit einem einlaminierten lichttechnischen Spezialgewebe. Wird das Glas in der Fläche oder am Glasrand mit LEDs hinterleuchtet, werden die Lichtpunkte der LEDs im Gewebe...

mehr
Ausgabe 09/2023

Freiheit unter dem Flachdach

Velux erweitert das Sortiment seiner Flachdach-Fenster Konvex- und Flach-Glas ab Herbst 2023 um drei neue Größen. Die neuen Ausführungen in den Maßen 150?x?120?cm und 150?x? 80?cm ermöglichen...

mehr
Advertorial/Anzeige

Das Flachdach-Fenster KONVEX-GLAS von VELUX: Elegantes Design trifft raffinierte Funktionen

Das Flachdach-Fenster KONVEX-GLAS passt perfekt in die geradlinige Architektur des Flachdachs. Es zeigt sich als elegante Tageslichtlösung für flache und flachgeneigte Dächer und verbindet höchste Ansprüche an Design und Funktion.

Schlichte, klare Kanten – das flache Dach liegt gerade klar im Trend. Vor allem auch die Möglichkeit, erstmal kleiner zu bauen und später bei Bedarf aufzustocken ist ein Pluspunkt, der schon einige...

mehr